Im "Gefällt mir"-Universum

Zehn Jahre Facebook: Ein essayistischer Blick zurück in die Tiefen des digital verknüpften Kommunizierens.

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Von
  • Peter Glaser
Inhaltsverzeichnis

Zehn Jahre Facebook: Ein essayistischer Blick zurück in die Tiefen des digital verknüpften Kommunizierens.

Beide sind sie nun seit 10 Jahren auf dem Weg und haben in dieser Zeit Erstaunliches vollbracht – und beide haben sie das Leben der Menschen umgekrempelt, die mit ihnen zu tun hatten. Der eine heißt "Opportunity" und rollt seit dem 24. Januar 2004 unermüdlich auf dem Mars herum; ursprünglich geplant war, dass er drei Monate durchhalten sollte.

Da ein Mars-Tag 40 Minuten länger dauert als ein Erdentag und die Bodenmannschaft im Jet Propulsion Laboratory der NASA in Pasadena diese Zeit möglichst effizient ausnutzen will, hat sich ihr Lebensrhythmus vom herkömmlichen terrestrischen Ablauf abgekoppelt. Jeden Tag stellen die Mitarbeiter ihre Wecker erneut um 40 Minuten vor, um nach dem Mars-Zeitmaß leben und arbeiten zu können.

Menschen interessieren sich für Menschen

Und bemerkenswerte Veränderungen hat auch der andere Jubilar nach sich gezogen: Am 4. Februar 2004 ging Facebook – damals noch thefacebook.com – an der Universität Harvard ans Netz. Diese neue Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten, traf einen Zentralnerv. Im Laufe der Neunzigerjahre hatte sich das Internet in etwas wie die längste Schaufensterfront der Erde verwandelt. Websites waren statische Guckkästen. Mit dem neuen Jahrtausend begann sich das zu ändern. Hatte man zuvor online meist mit Maschinen zu tun gehabt, so waren es nun immer öfter Menschen – das Netz wurde sozial.

Im Frühjahr 2003 startete in den USA ein Online-Dienst namens "Friendster", der einem dabei half, persönliche Kontakte zu knüpfen. Das war neu und aufregend, denn Menschen interessieren sich nicht für Maschinen – Menschen interessieren sich für Menschen.

Als Rupert Murdoch 2005 für umgerechnet 400 Millionen Euro das florierende Kontaktportal MySpace kaufte, war klar: Die sozialen Netze sind da. Ein gewisser Mark Zuckerberg erwarb zu dieser Zeit gerade von einer kanadischen Wohltätigkeitsorganisation für 200.000 Dollar die Internetadresse facebook.com.

Das Wählscheibentelefon anstaunen

"Wie ist man eigentlich früher ins Internet gekommen, als es noch keine Computer gab?" – um diese Frage eines Zehnjährigen einigermaßen ernsthaft zu beantworten, muss man heute schon in tiefliegende Erinnerungsschichten graben. Man schrieb Zettel und hängte sie an die Wohnungstür, wenn man jemanden aufsuchen wollte und er nicht zu Hause war. Man bat Freunde oder Mitbewohner, etwas auszurichten. Graste die gängigen Lokale ab. Sah an den meistfrequentierten Haltestellen in der Innenstadt nach. Setzte sich irgendwo rein, wo es Billardtische oder Flipperautomaten gab und wartete, bis jemand kam. Warf Steinchen in den zweiten Stock an die Fensterscheibe, weil die Haustür schon abgeschlossen war und es keine Klingel und keine Gegensprechanlage gab – und natürlich niemand ein Handy hatte. Saß in einer WG und staunte das Telefon (mit Wählscheibe) an und hatte niemanden, den man hätte anrufen können.

Facebook hat die Art, wie wir miteinander umgehen, verändert. Wie wir Nachrichten und Wissen handhaben, plaudern, klatschen und wie wir uns engagieren oder empören. Man liest nun nicht mehr einfach eine Zeitung, sondern steht auf Facebook mit Menschen in Kontakt, von denen jeder andere Zeitungen liest und, wenn er etwas interessant findet, einen Hinweis darauf von sich gibt. Aus der Summe dieser Empfehlungen entsteht ein neues Gewebe aus Nachrichten und Unterhaltung, das mit den Rubriken einer Zeitung – oder dem Fernsehprogramm – nur noch wenig zu tun hat. Es ist eine flüssige Zeitung. Jeder gießt im Facebook-Stream einen Schluck dazu.

Das große "Gefällt mir"-Universum ist nun auch der Ort, an dem wir einen nagelneuen Teil unserer Persönlichkeit entfalten – unsere digitale Identität. Facebook-Identitäten haben etwas Spielerisches, etwas von einem Maskenball, auch wenn es erwünscht ist, dass man unter seinem Klarnamen auftritt. Es ist nicht nur ein Experimentieren mit neuen Möglichkeiten, sondern – angesichts der aggressiven Datenbegehrlichkeiten von Unternehmen und einschlägiger Behörden – auch eine Art von Selbstschutz, wenn Facebook-Teilnehmer ihre Identität manchmal lieber ein wenig im Ungewissen lassen. Als sich herausstellte, dass die vermeintliche lesbische Bloggerin Amina Araf aus Syrien in Wirklichkeit ein 40-jähriger Schotte war, stellte sich wieder die Frage nach der Glaubwürdigkeit digitaler Identität.