Synthetisches FingerspitzengefĂĽhl

Eine neue Prothese des europäischen Forschungsprojekts Lifehand 2 lässt Patienten, die ihre Hand verloren haben, wieder unterschiedliche Materialien und Formen von Gegenständen erspüren.

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Von
  • David Talbot

Eine neue Prothese des europäischen Forschungsprojekts Lifehand 2 lässt Patienten, die ihre Hand verloren haben, wieder unterschiedliche Materialien und Formen von Gegenständen erspüren.

Vor neun Jahren verlor Dennis Aabo Sørensen seine linke Hand, als er mit Feuerwerkskörpern hantierte. Neun Jahre, in denen der Tastsinn der Fingerspitzen nur noch eine Erinnerung war. Die Prothese, die er trug, konnte nur zupacken - "wie die Bremse an einem Motorrad", sagt Sørensen. In einem Versuch des europäischen Forschungsprojekts Lifehand 2 konnte der Däne nun fühlen, was er in der Hand hielt - dank einer neuen Prothese, die an der École Polytechnique Féderale de Lausanne (EPFL) entwickelt worden ist. Sensoren in den drei Roboterfingern übertrugen an die im Arm verbliebenen Nerven einen Sinneseindruck dessen, was die künstliche Hand berührte.

Nachdem Sørensen die Prothese im Gemelli-Krankenhaus in Rom angesetzt worden war, verbanden die Forscher aus Lausanne sie mit dem Ellennerv und dem Mittelarmnerv des Dänen. Registrieren die Sensoren eine Krafteinwirkung auf die Finger, schickt die Prothese elektrische Signale in die beiden Nerven. Die Technik beschreiben sie in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Science Translational Medicine.

„Das war unglaublich, ich konnte plötzlich zum ersten Mal seit neun Jahren wieder Dinge fühlen“, sagt Sørensen in einem Video, das die ETH Lausanne veröffentlicht hat. „Ich konnte runde und harte und weiche Dinge spüren. Das Feedback war total neu für mich. Auf einmal, bei Bewegungen, konnte ich auch fühlen, was ich tue, anstatt nur zu sehen, was ich tue.“

Wurde der Ellennerv stimuliert, fühlte sich das für Sørensen wie eine Berührung des kleinen Fingers an. Eine Stimulierung des Mittelarmnervs vermittelte einen Sinneseindruck an Daumen und Zeigefinger. Dabei ließ sich die Intensität der Stimulierung an den tatsächlichen Druck auf die Robot-Finger anpassen.

Sørensen selbst konnte den Forschern sagen, wie fest er nach seinem Gefühl einen Gegenstand packte. Auf diese Weise musste er diesen nicht zu sehr festhalten, um ein Entgleiten zu verhindern. Sørensen lernte auch, verschiedene Materialien und Formen zu unterscheiden. Runde Objekte, hölzerne oder solche aus Stoff machten ihm auch im Blindtext keine Probleme. Die eigentliche Bewegung an den Prothesen wird über die verbliebenen Muskeln im Armstumpf ausgelöst.

„Diese abgestufte Empfindung kommt in Echtzeit, er kann sofort den Unterschied spüren“, sagt Stanisa Raspopovic vom Translational Neural Engineering Lab der EPFL. „Das ist sehr wichtig.“ An dem Forschungsprojekt Lifehand 2 sind verschiedene Universitäten und Krankenhäuser in der EU beteiligt.

Vorerst musste Sørensen die Prothese nach 31 Tagen wieder abgeben. Doch die Forschung an Ersatz-Gliedmaßen, die mit dem Nervensystem gekoppelt werden, läuft auf Hochtouren. Ein Forschungsteam an der Case Western Reserve University hat eine ähnliche berührungsempfindliche Apparatur entwickelt, die vor 19 Monaten auf den Armstumpf eines Mannes aus Ohio verpflanzt wurde. Die Prothese funktioniert nach wie vor: Der Patient kann mit ihrer Hilfe Sandpapier von Baumwolle unterscheiden. Möglich machen das 20 Sensoren an Innenfläche und Fingern der künstlichen Hand.

Jack Judy, Direktor des Nanoscience Institute for Medical and Engineering Technologies an der University of Florida in Gainesville, findet die Ergebnisse aus Lausanne zwar schon gut, doch stammten sie noch aus einem überschaubaren Zeitraum. „Die entscheidende Frage ist die langfristige Stabilität der Technologie“, so Judy. „Wenn die neuronale Schnittstelle über einen langen Zeitraum funktioniert, könnte dieser Ansatz das Leben von Menschen mit amputierten Gliedmaßen deutlich verbessern.“

In Versuchen mit Ratten hätten die Implantate bis zu zwölf Monate funktioniert, sagt EPFL-Forscher Raspopovic. „Wir sind zuversichtlich, dass wir das mit der Handprothese auch über einen sehr, sehr langen Zeitraum hinbekommen.“

Das Paper:
Raspopovic, S. et al.: "Restoring Natural Sensory Feedback in Real-Time Bidirectional Hand Prostheses", Science Translational Medicine, Vol. 6, 5.2.2014 (Abstract) (nbo)