Von Journalisten und Lesern

Journalisten schreiben und Leser lesen uns. So hoffen wir es zumindest. Die Realität sieht leider ganz anders aus. Aber warum?

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Von
  • Jens Lubbadeh

Journalisten schreiben und Leser lesen uns. So hoffen wir es zumindest. Die Realität sieht leider ganz anders aus. Aber warum?

Galten Fernsehen und Radio früher als die schnellsten Medien, hat sich mit Internet-Journalismus die Nachrichtengeschwindigkeit nochmal erhöht. Flaschenhals sind da mittlerweile wir, die Leser. Je nachdem, wie geübt wir sind, schaffen wir sehr unterschiedlich viele Wörter pro Minute. Ungeübte Leser bringen es auf 100 Wörter pro Minute. Durchschnittliche auf etwa 300. Und sehr trainierte, schnelle Leser gar auf 1000.

Meine Kollegin Veronika Szentpetery beschrieb neulich, wie sie mit der Lese-Zeitangabe der Kindle-App umging. Und dass neuerdings wohl auch Webseiten Artikel mit der voraussichtlichen Lesezeit kennzeichnen. Die Seite Matter geht offenbar von einer Lesegeschwindigkeit von etwa 220 Wörtern pro Minute aus.

Ein Weg, um den Flaschenhals Leser zu optimieren, ist natürlich, die Wortlänge zu verkürzen. Twitter-Nachrichten sind sozusagen die konsequenteste Form dieses Abspeckens. Und obwohl sie theoretisch unbegrenzt Platz zur Verfügung hätten, haben auch viele News-Portale Längenbegrenzungen. Länger als 4500 bis 5000 Zeichen, so die Daumenregel, sollte ein Nachrichtenartikel nicht sein. Das sind gerade mal 800 Wörter. Vier Minuten unserer Aufmerksamkeit.

Und selbst die bringen wir kaum noch auf. Allen, die an dem Dogma der kurzen Online-Texte zweifeln, sei dieser sehr unterhaltsame zugleich aber auch sehr desillusionierende Slate-Artikel empfohlen. Dort wurde einmal das Scroll-Verhalten der Leser analysiert - und damit indirekt ihr Leseverhalten. Heraus kam eine typische Gauss-Verteilung: Die meisten scrollen Artikel nur bis zur Hälfte herunter (optimistischerweise nehmen wir mal an, dass sie auch bis dahin gelesen haben), was übrigens nicht der Hälfte des Textes entspricht, weil die erste Seite von Headline, Wiederholung des Teasers und dem Bild dominiert wird. Kurz gesagt: Nach etwa 300 Wörten, also ein bis zwei Minuten Lesezeit, ist die Hälfte schon wieder weg.

Ăśbrigens gibt es eine groĂźe Fraktion der Leser, die gar nicht scrollen. Und ĂĽberhaupt nicht erfasst sind natĂĽrlich diejenigen, die den Artikel noch nicht mal angeklickt haben, also nicht weiter als ĂĽber Headline und Teaser hinausgekommen sind.

Die BegrĂĽndung klingt auch nicht so abwegig: Die meisten Menschen konsumieren Online-Nachrichten immer noch am Bildschirm, oft im BĂĽro, idealerweise in der Mittagspause. Am Monitor, dem sogenannten Lean-Forward-Medium, liest niemand gerne lange Texte. Lean Forward klingt auch anstrengend. Zwar verschiebt sich der Nachrichtenkonsum immer mehr hin zum Smartphone, doch auch auf diesen kleinen Displays, und das leuchtet ein, sind lange Texte eher unangenehm zu lesen.

Das klingt tatsächlich nicht besonders gut und weckt erst einmal einen Früher-war-alles-besser-Impuls in einem. Aber war es früher wirklich besser? Lesen Leute Zeitungen mit mehr Muße?

Dass das nicht so ist, lassen Readerscan- und Eyetracking-Messungen ahnen - genaue Ergebnisse findet man seltsamerweise kaum. Ich schätze, weil die Wahrheit anders aussah als man sie sich als Journalist erwartet hätte. Vermutlich haben die Verlage und Zeitungen, die einen (sehr teuren) Readerscan in Auftrag gaben, die (wahrscheinlich erschreckenden) Ergebnisse peinlich geheim gehalten. Wer gibt schon gerne zu, dass seine Leser im Schnitt gerade mal acht Prozent der Zeitung lesen, wie der Readerscan im Falle der "Main Post" ergab.

Natürlich kann man die Readerscan-Methode kritisieren, die vor einigen Jahren für Aufregung in der Medienszene sorgte. Die gerade mal 120 Probanden mussten während des Lesens mit einem Stift genau die Zeilen markieren, wo sie ausgestiegen waren. Wer liest schon so? Das erinnert doch ein wenig an das unnatürliche Messystem der TV-Quoten-Box.

Besser sind da sicherlich Eye-Tracking-Messungen. Doch auch beispielsweise die Blickstudie aus dem Jahr 2006 im Auftrage des Kuratoriums für Journalistenausbildung, lässt wenig Gutes ahnen. Nur neun Prozent der untersuchten Probanden (Achtung: es war nur eine kleine Stichprobe von rund 30 Personen) las Artikel in Gänze durch. Mehr als die Hälfte waren Bild- und Überschriftensurfer. Und hier wurden zwei Boulevardzeitungen untersucht (Kronen-Zeitung und "Österreich"), wo Länge und Komplexitätsgrad der Artikel sich in Grenzen gehalten haben dürfte.

Aber es muss sie noch geben, die Langleser. Sonst würde "Die Zeit" nicht ständig gegen den Trend Auflage hinzugewinnen. Vielleicht haben wir es ja mit einem gewaltigen Henne-Ei-Mechanismus zu tun: Wirtschaftlich unter Druck stehende Tageszeitungen und kostenloser Online-Journalismus kann nur zwangsläufig geringere Qualität bieten. Für geringere Qualität aber sind Leser verständlicherweise weniger bereit zu zahlen. Und weil sie schon geringere Qualität antizipieren, lesen sie auch nicht mehr die Artikel zuende. Das wiederum antizipieren die Medienschaffenden und machen die Texte immer kürzer und unanspruchsvoller. Die Lösung für das Henne-Ei-Problem? Meiner Meinung nach kann es nur der Leser sein, der den Journalisten für seine Leistung bezahlt. Übrigens hat das Henne-Ei-Problem schon längst vor den Zeiten des Kostenlos-Internet-Journalismus begonnen: Indem Verlage aufgrund sprudelnder Anzeigenerlöse die Preise für Zeitungen und Magazine künstlich niedrig hielten, und das, obwohl sie die Redaktionen immer mehr aufblähten und die Zeitungen und Magazine immer dicker wurden. Journalismus war schon immer teuer, der Leser hat es nur nicht gemerkt. Würde man einen komplett werbefreien Spiegel machen wollen, müsste er nicht 4,40 Euro kosten, sondern wahrscheinlich 14,40 Euro oder mehr. Insofern haben die Leser meiner Einschätzung nach das Gefühl für den Wert von Journalismus verloren.

Journalismus war immer nur möglich dank des Vertrauensvorschusses der Leser. Jedesmal, wenn man am Kiosk seine Zeitung oder sein Magazin kaufte. Das Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen, aber das geht auch nur, wenn wir dafür eine vernünftige Arbeitsbasis haben. Schluss mit Henne oder Ei. Und danke, dass Sie bis hierhin durchgehalten haben. (jlu)