Vor 60 Jahren: Das "Baby" rechnet

1948 lief die erste Berechnung in einem frühen Computer ab, mit der die Leistungsfähigkeit der Von-Neumann-Architektur bewiesen wurde. Die Entwickler der Small-Scale Experimental Machine (SSM) nannten ihre Schöpfung nur "Baby".

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Von
  • Detlef Borchers

Heute vor 60 Jahren lief die erste Berechnung in einem frühen Computer ab, mit der die Leistungsfähigkeit der Von-Neumann-Architektur bewiesen wurde. In 52 Minuten faktorisierte die Small-Scale Experimental Machine (SSM) in Manchester, von ihren Erbauern nur "Baby" genannt, 2 18. Ein Programm mit 17 Befehlen ermittelte nach 3,5 Millionen Speicherzugriffen die Zahl 217, in dem absteigend von 262143 (218-1) jede Zahl darauf geprüft wurde, ob sie ein Faktor von 218 ist. Zur Feier des Jubiläums beging Manchester bereits gestern den Digital 60 Day.

Das rechnende Baby wurde von Frederik Calland Williams, Tom Kilburn und Geoff Totill ab 1945 an der Victoria University in Manchester entwickelt, um Phänomene der Williams-Kilburn-Kathodenstrahlröhre zu untersuchen. Diese Röhre optimierte einen Effekt, den alle Kathodenstrahlröhren aufweisen: Ein Bildpunkt in einer Kathodenstrahlröhre erzeugt eine positive Ladung, seine Umgebung wird negativ aufgeladen. Dieses Verhalten nutzte die Williams-Kilburn-Röhre aus, um Daten als Muster von positiv und negativ geladenen Bildpunkten zu speichern. Bei ihrer Arbeit gelang es den Ingenieuren, die Speicherkapazität der Röhre auf 2048 Bit in einem 32 × 32er-Gatter zu erweitern. Der Speicher war allerdings außerordentlich fragil: Die Bildpunktdaten in der Phosphorröhre verlöschen etwa nach einer Sekunde, abhängig vom elektrischen Widerstand im Innern der Röhre. Nutzbar wurde der Speicher erst, als Williams 1946 ein Verfahren entwickelte, das den Speicher in Millisekunden regenerierte. Dieser "Memory Refresh" ist heute noch das gängige Verfahren zur Datenerhaltung im Arbeitsspeicher von Computern.

Der mit der Röhrentechnik aufgebaute Computer bestand aus vier Williams-Kilburn-Röhren. Die erste war praktisch der Speicher mit dem Programm, die dritte der Arbeitsspeicher, während die zweite wechselseitig die Auffrischung des Speichers besorgte. Die vierte Röhre war gewissermaßen der Bildschirm, denn sie konnte den Zustand der anderen drei Röhren anzeigen. Wichtiger als die erfolgreiche Faktorisierung war im Juni 1948 der Nachweis, dass Programm wie Arbeitsspeicher in einem Computer-Speicherwerk gehalten werden konnten. Mit den Berechnungen von Baby begann die Phase, in der nach schnellen Dauerspeichern gesucht wurde, die 1949 zur Entwicklung des Kernspeichers durch An Wang führte.

Das Baby der Ingenieure war der Anfang des modernen Computerbaus in Großbritannien: Aus der Small-Scale Experimental Machine wurde der erste Prototyp des später Manchester Mark 1 genannten Systems, das schließlich unter dem Namen Ferranti Mark 1 für die kommerzielle Nutzung entwickelt wurde. Anlässlich der Recherche zum "Digital 60 Day" entdeckten Archivare ein bemerkenswertes Tondokument. In ihrem Spieltrieb hatten die Ingenieure Mark 1 so programmiert, dass er Lieder spielen konnte. Ein Medley von "God save the King", "Baa Baa Black Sheep" und "In the Mood" gilt nunmehr nach einem BBC-Bericht als älteste Aufnahme in der Geschichte der Computermusik. Programmiert hatte die Musik übrigens Christopher Strachey, ein Studienkollege Alan Turings. Strachey war es auch, der eine Idee von Turing umsetzte und 1952 den Nachfolger von "Baby" Liebesbriefe schreiben ließ.

Der Tag, an dem das erste im Speicher gehaltene Computerprogramm seine Berechnungen durchführte, ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen als Tag der Währungsreform abgespeichert, als im damaligen Westdeutschland die D-Mark eingeführt wurde und Ludwig Erhard das Ende der Zwangsbewirtschaftung ankündigte. Ludwig Erhard war es denn auch, der später als Wirtschaftsminister gegen das Elektronenhirn Nimrod von Ferranti antrat, dem kommerziellen Nachfolger der Small-Scale Experimental Machine. Er verlor alle drei Partien.

Wer so oder so zur Feier des Tages mit Baby spielen möchte, sei die Java-basierte, fotografisch aufgepeppte "Live-Version" des Babys empfohlen, eine Weiterentwicklung des Baby-Programms von David Sharp. (Detlef Borchers) / (pmz)