Auf den Spuren der deutschen Computermaus

Mit ihrer "Rollkugel" bot die Firma AEG-Telefunken schon vor vierzig Jahren ein grafisches Eingabegerät an, das man über den Tisch ziehen konnte - noch bevor Douglas Engelbart in der "Mother of all Demos" die Computermaus der Öffentlichkeit präsentierte.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 189 Kommentare lesen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Ralf Bülow

Die "deutsche Maus"

(Bild: Computermuseum der Fakultät Informatik, Universität Stuttgart)

Vor einem knappen halben Jahr feierte die Technikwelt den 40. Jahrestag der "Mother of all Demos", die am 9. Dezember 1968 die Computermaus an die Öffentlichkeit brachte. Demo-Leiter Douglas Engelbart gilt seitdem als Erfinder des immer noch genialsten und griffigsten Eingabegeräts der Informatik.

Diese Ansicht muss jedoch korrigiert werden, denn schon einige Wochen vorher erschien eine Publikation der Firma Telefunken, die ein Input-Instrument vorstellte, das an Monitoren hing und funktionell der Engelbart-Maus gleichkam: die so genannte Rollkugel. Seit den frühen 70er-Jahren wurde sie zusammen mit Telefunken-Rechnern verkauft und in der Praxis eingesetzt, und mindestens ein Exemplar hat in einem Museum überlebt.

Wann die Geschichte der Rollkugel genau beginnt, ist nicht mehr zu ermitteln. Bekannt ist ein Vorläufer, ein Gerät ähnlich dem heutigen Trackball, das neben Radarschirmen eingelassen war und zum Abruf von Flugzeugdaten diente. Von 1966 an produzierte die amerikanische Firma Orbit solche "Ball Tracker", und vermutlich zur gleichen Zeit arbeitete ein kleines Team bei Telefunken in Konstanz an einem aufwendigen System für die Bundesanstalt für Flugsicherung. Es umfasste nicht nur den Radartisch und das, was in ihm steckte, sondern auch einen Computer vom Typ TR 86, der die grafische Benutzeroberfläche erst möglich machte. Leiter des Teams war der inzwischen 75-jährige Rainer Mallebrein, der heute in Singen in der Nähe des Bodensees lebt.

Die "deutsche Maus" (Ansicht von unten)

(Bild: Computermuseum der Fakultät Informatik, Universität Stuttgart)

Schon seit 1965 entwickelte Telefunken den Großrechner TR 440, mit dem man auch das neue Time-Sharing realisieren wollte. Es lag nahe, für Eingaben an den dafür nötigen Terminals die Trackballs aus der Flugsicherung zu übernehmen. Rainer Mallebrein erinnert sich, dass man es den Abnehmern des Computers nicht zumuten wollte, Löcher in Tische zu bohren und Eingabeeinheiten darin zu versenken. Er fand eine elegantere Lösung, indem er die Kugel und den sie umgebenden Kugelhalter umdrehte, über ein Kabel mit dem Monitor verband und auf diese Weise beweglich machte. Das war die Geburt der deutschen Computermaus.

Patentiert wurde sie offenbar nicht. In Telefunken-Schriften aus den 60er-Jahren taucht mehrmals eine "Rollkugel" zur Steuerung elektronischer Schaltungen auf, doch sitzt sie stets in einer festen Halterung. Solche Konfigurationen waren unter den Ingenieuren längst bekannt, und der Schritt zur mobilen Kugel wurde – so müssen wir rekonstruieren – als so geringfügig betrachtet, dass eine Patentanmeldung unterblieb. Man machte sich noch nicht einmal die Mühe, dem Kind einen neuen Namen zu geben. Es wird eigentlich nur aus Bildern oder Beschreibungen klar, dass eine Telefunken-Rollkugel kein stationärer Trackball mehr ist, sondern schon eine bewegte Maus.

Am 2. Oktober 1968 – gut zwei Monate vor Douglas Engelbarts Demo – erschienen die "Technischen Mitteilungen" von AEG-Telefunken mit einem Artikel von Günter Neubauer über "Sichtgeräte in elektronischen Datenverarbeitungsanlagen". Er behandelte den Monitor SIG-100 für vektorgrafische Darstellungen von Ziffern, Buchstaben, Sonderzeichen und Polygonen; als Eingabemedien dienten Lichtgriffel, Lichtindikatoren und Rollkugeln. "Mit ihnen", schrieb der Autor, "ist es möglich, schnell und leicht ein Positionssymbol auf dem Schirm zu verschieben, Marken zu setzen und damit die Information zu verändern." Der Cursor wurde damals also auch schon erfunden. Zum Text gehörte ein Bild, das den SIG-100 mit angeschlossener Rollkugel zeigt.

Der SIG-100 mit angeschlossener Rollkugel

(Bild: Computerschausammlung der FH Kiel)

Ende 1968 wurde dann der erste TR-440-Computer bei einem Kunden, dem Deutschen Rechenzentrum Darmstadt, installiert; in der Folgezeit verkaufte oder vermietete die Firma 45 weitere Systeme. Zum Peripherie-Angebot zählte das über einen Satellitenrechner TR 86 anzuschließende Sichtgerät SIG-100, wobei die Rollkugel aber nur optional dazugehörte. Wir wissen also nicht, ob die Telefunken-Maus schon 1968 zum Einsatz kam, belegt sind auf jeden Fall vier mobile Rollkugeln im Münchner Leibniz-Rechenzentrum anno 1972. Das war neun Jahre vor der ersten in den USA verkauften Maus, mit der man den Xerox Star bediente.

Vier Jahrzehnte nach ihrer Einführung ist es nicht leicht, anhand einer Funktionsbeschreibung, die zwischen 1968 und 1970 erschien und in der Kieler Computerschausammlung liegt, die Bedienung der Rollkugel zu rekonstruieren. Sie besaß jedenfalls an der Oberseite einen zentralen Druckknopf, der sie ein- und die Tastatur ausschaltete, und ihre Hauptaufgabe war das Verschieben einer Sichtmarke auf dem Bildschirm. Zum Zeichnen von Polygonzügen musste der Benutzer die Kugel aktivieren, die Marke durch Rollen über den Tisch verschieben, die Kugel ausschalten und eine Taste auf der Tastatur drücken. Daraufhin wurden die letzte und die vorletzte Position des Cursors durch eine Linie verbunden.

Erstaunlich jedenfalls ist das hohe Niveau, das die grafische Datenverarbeitung schon in der 60er-Jahren in Konstanz erreichte und das heute weitgehend vergessen ist. Zur Priorität ist zu bemerken, dass die deutsche und die amerikanische Computermaus sicher unabhängig voneinander entwickelt wurden, wobei Douglas Engelbart wahrscheinlich als Erster auf das Grundkonzept kam. Bei der Publikation im Jahre 1968 hatte aber Telefunken die Nase vorn, und die Markteinführung geschah Jahre vor den US-Mäusen.

Traurig ist, dass die Rollkugel so schnell vergessen wurde und später, als die Maus zur Grundausstattung von Heim- und Personalcomputern gehörte, niemand mehr an sie erinnerte. Im Internet findet sich eine versteckte (und nicht ganz korrekte) Reminiszenz von Rul Gunzenhäuser aus dem Jahr 1999, und eine der deutschen Mäuse gibt es als Museumsstück in Stuttgart. Nicht viel, aber vielleicht ein Anfang für weitere historische Forschungen.

Siehe dazu auch:

(Ralf Bülow) / (jk)