Wirtschaft wettert gegen EU-Vorgaben zur Netzneutralität

Industrieverbände, bei denen Telekommunikations- und Kabelkonzerne an Bord sind, haben sich vehement gegen die engen Grenzen für "Spezialdienste" im Entwurf des EU-Parlaments für den digitalen Binnenmarkt ausgesprochen.

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Bernhard Rohleder, Geschäftsführer des Hightech-Verbands Bitkom, ist verärgert nach dem Beschluss der EU-Abgeordneten zu neuen Regeln für den Telekommunikationsmarkt: Das Parlament konterkariere mit der geplanten Abschaffung der Roaming-Gebühren nicht nur seine eigene Ziele zum Breitbandausbau, da die Preise für Inlandstelefonate und mobile Internetnutzung zwangsläufig stiegen, moniert der Industrievertreter. Auch stört ihn, dass es Providern "verboten" werden solle, zusätzliche Einnahmen über gesonderte Übertragungsofferten zu erzielen.

Digitaler Binnenmarkt: Einheitliche Telecom-Regeln für Europa

Mit neuen Regeln für den digitalen Binnenmarkt, die nach dem Beschluss des Europa-Parlaments noch mit dem EU-Rat festgezurrt werden müssen, sollen die Regulierungsvorgaben für die elektronische Kommunikation vereinheitlicht werden. Wichtige Teilvorhaben sind unter anderem die Abschaffung der Roaming-Gebühren im Mobilfunk und die Sicherstellung der Netzneutralität.

Das EU-Parlament will "Spezialdienste" etwa im Bereich Video on Demand, Telekonferenzen oder Ferndiagnose nur zulassen, wenn diese "über logisch getrennte Kapazitäten und mit strenger Zugangskontrolle" bei ausreichenden Netzkapazitäten erbracht werden. Sie müssen Funktionen enthalten, "die durchgehend verbesserte Qualitätsmerkmale" beanspruchen. Prinzipiell soll der Netzverkehr "gleich und ohne Diskriminierung, Einschränkung oder Störung" behandelt werden.

"Regelungen zur Netzneutralität müssen gesicherte Qualitätsklassen ermöglichen", hält Rohleder dagegen. "Sie sind notwendig, um die Güte neuer Internet-Dienste zu garantieren und innovative Services und Geschäftsmodelle zu ermöglichen." Inhalteanbieter und Endkunden müssten "zu vernünftigen Preisen" garantierte Qualitäten einkaufen können, die über die bislang üblichen, meist nicht garantierten Maximalbandbreiten hinausgehen. Gerade junge Unternehmen, die sich keine teuren Standleitungen leisten könnten, würden davon profitieren.

Hintergrund des neu aufkochenden Streits ist, dass Konzerne wie das Bitkom-Mitglied Deutsche Telekom seit Langem aus dem traditionellen Internet eine Ansammlung von "Managed Services" machen wollen. Diese sollen ihnen eine stärkere Kontrolle und höhere Gewinnchancen eröffnen. Mit der Entscheidung des Parlaments könnten die Provider Spezialdienste aber nur in engem Rahmen vorantreiben.

Enttäuscht über die Wende zeigt sich auch der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten (VATM). Europa habe sich damit einen Bärendienst erwiesen, schimpft der Geschäftsführer der Vereinigung der Telekom-Konkurrenten, Jürgen Grützner. Der Kunde müsse selbst entscheiden können, welche Qualitätsklasse er nutzen wolle. Auch in der Kritik des Roaming-Kurses der Volksvertreter geht der VATM mit dem Bitkom konform. Begrüßenswert findet er, dass mit dem Votum "der Zugang zu Vorleistungsprodukten, die für den Breitbandausbau unverzichtbar sind, nicht erschwert oder verhindert werden kann".

Der Verband Deutscher Kabelnetzbetreiber ANGA beklagt, das Parlament habe es versäumt, "eine praxistaugliche und ausgewogene Regulierung der Netzneutralität zu schaffen". So bleibe etwa unklar, ob Netzbetreiber Vereinbarungen über teurere Spezialdienste mit Inhalteanbietern abschließen dürften.

Nachdrücklich begrüßt dagegen der Bundesverband IT-Mittelstand (BITMi) das Bekenntnis zum offenen Internet. Eine Drosselung oder gar Blockade von Datenpaketen hätte vor allem kleinere und mittlere Online-Firmen in Europa schwer getroffen und deren Innovationskraft gegenüber Wettbewerbern im Silicon Valley ausgebremst, erklärte BITMi-Präsident Oliver Grün gegenüber heise online. Der IT-Mittelstand habe nicht die Mittel, "sich im Kauf von schnellem Datenverkehr gegen große Konzerne durchzusetzen".

Bundesjustiz- und Verbraucherschutzminister Heiko Maas lobte, dass die Abgeordneten "zwei für die digitale Welt wichtige Signale gesetzt haben". Die Weichenstellung für das offene Internet bezeichnete der SPD-Politiker als "gute Grundlage für die weiteren Beratungen" mit den EU-Mitgliedsstaaten. Es dürfe nicht sein, "dass sich in der digitalen Welt nur die behaupten, die die notwendigen finanziellen Mittel dazu haben". Die Abschaffung der Roaming-Gebühren stärke zudem die deutschen Verbraucher, für die europäische Länder "sehr attraktive" Reiseziele seien.

Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion lobten die "klare Positionierung für ein offenes Internet", die "grundsätzlich dem Koalitionsvertrag" entspreche. Konstantin von Notz, netzpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, appellierte an die Bundesregierung, "in Sachen Netzneutralität nachzuziehen" und "eines der grundlegendsten demokratischen Prinzipien der digitalen Welt" effektiv gesetzlich abzusichern.

Die Bürgerrechtsorganisation La Quadrature du Net sprach von einem Sieg für das freie Netz, der auch der starken Mobilisierung vieler Wähler zu verdanken sei. Der Digitalen Gesellschaft ist der Verordnungstext aber noch nicht wasserfest genug: Er enthalte Schlupflöcher für den Umbau des offenen Internets in ein Zwei-Klassen-Netz, die zu stopfen seien. (anw)