Das zwiespältige Vergnügen des Lifeloggings

TR-Autorin Rachel Metz hat zwei Geräte getestet, die permanent Bilder des Alltags schießen. Während weder der Autographer noch der Narrative Clip sie vollends überzeugen konnten, werfen beide die Frage auf, wieviel Erinnerung eigentlich genug ist.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 11 Kommentare lesen
Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Rachel Metz

TR-Autorin Rachel Metz hat zwei Geräte getestet, die permanent Bilder des Alltags schießen. Während weder der Autographer noch der Narrative Clip sie vollends überzeugen konnten, werfen beide die Frage auf, wieviel Erinnerung eigentlich genug ist.

Ich weiß seit Jugendtagen, dass ich wahrlich nicht zu den großen Menschen gehöre. Aber wie klein ich bin, wurde mir erst kürzlich bewusst, als ich zwei Geräte für das sogenannte Lifelogging testete. Die werden am T-Shirt festgeklammert oder an einer Schnur um den Hals getragen und schießen von da an permanent Fotos von meiner Umgebung. Das Ergebnis ist nun eine Sammlung von Schnappschüssen aus dem Silicon Valley, die vor allem eines zeigen: Beine, Bürgersteige und Fahrradgriffe. Ganz so hatte ich mir mein Lifelogging-Experiment nicht vorgestellt.

An sich ist Lifelogging keine neue Idee. Pioniere wie Steve Mann experimentierten damit bereits Mitte der Neunziger. 1998 begann Microsoft-Forscher Gordon Bell, so viel digitale Information über sein Leben wie möglich zu sammeln, um ein Archiv seiner Lebensgeschichte anzulegen. In seinem Buch „Total Recall“ vertrat er die These, Lifelogging mache das Leben besser und werde bald allgegenwärtig sein.

So weit ist es zwar noch nicht gekommen, aber das Lifelogging nimmt allmählich Fahrt auf. Smartphone-Kameras und Apps halten immer mehr Details aus dem Alltag fest. Nun kommen Geräte wie der Autographer oder der Narrative Clip hinzu: Tragbare Kameras, die immerzu fotografieren.

Ich selbst hatte schon vorher die Angewohnheit gehabt, mit meinem Smartphone nebenbei alles Mögliche festzuhalten: Feuerwehrleute, die ihren Wagen waschen, Blumen in meinem Wohnzimmer, ein Waschbär, der vor der Haustür lebt. Ich teile solche Bilder im Netz und blättere dann auf Facebook oder Instagram durch meine Erinnerungen. Ein Gerät, dass solche Fotos von selbst schießt, würde gut dazu passen.

Ich fragte mich auch, ob die Zeit mit der Familie oder Ausflüge mit dem Fahrrad vielleicht noch mehr Spaß machen würden. Könnte ich mich dann noch besser an Menschen und zurückliegende Ereignisse erinnern? Könnte ich mich in der so entstehenden Bilderflut vielleicht gar gut zurechtfinden?

Lifelogging-Kameras sind nichts für kleine Menschen: Die Welt besteht vor allem aus Bürgersteigen und Beinen.

(Bild: Technology Review)

Zunächst musste ich mich jedoch daran gewöhnen, ständig eine Kamera zu tragen. Vor allem mit dem etwas klobigen Autographer am Hals fühlte ich mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut. Der Autographer verfügt über ein Weitwinkelobjektiv und verschiedene Sensoren, etwa einen Beschleunigungsmesser. All das ist in einem Gehäuse von der Größe einer Zigarettenschachtel untergebracht. Schon bald erwischte ich mich dabei, wie ich mich bei Freunden und in Läden für das Gerät entschuldigte – das sei ein rein beruflicher Test. Das verstärkte die Aufmerksamkeit aber noch.

Andererseits ist es gut, dass die Geräte – noch – Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie sehen zwar wie ein typisches Techno-Gadget aus, wirken aber nicht aufdringlich. Die Menschen fragen nach dem seltsamen Quadrat – dem Narrative Clip – oder dem schimmernden schwarzen Kästchen – dem Autographer -, das da am T-Shirt-Kragen baumelt. Beim Autographer erkennen die meisten, dass er eine Kamera enthält. Die Funktion des Narrative Clip ist nicht ganz so offensichtlich. Und wenn jemand ein Problem mit den Geräten hat, kann man sie einfach abschalten.

Tatsächlich schaltet man sie auch sonst häufiger ab. Denn die Bluetooth-Verbindung des Autographer zum iPhone laugt schnell die Batterie aus. Bei einer mittleren Foto-Frequenz – 240 Bilder pro Stunde – hielt sie nur ein paar Stunden. Die Batterie des Narrative Clip hält immerhin über einen Tag. Das liegt daran, dass keine Sensoren, Displays und drahtlosen Verbindungen Strom ziehen. Andererseits ist es ärgerlich, dass man das Gerät an einen Rechner anschließen muss, um an die Bilder zu kommen.

Lästig war auch, immer daran denken zu müssen, die beiden Geräte regelmäßig aufzuladen. Irgendwann gewöhnte ich mich daran. Nicht jedoch an ein anderes großes Problem: den Inhalt der Bilder. Ich verbringe viele Stunden am Tag vor einem Bildschirm, während meine Finger über die Tastatur flitzen. Am Ende eines Tages Hunderte von Fotos zu sehen, die nur diese Büroarbeit zeigen, war eher unangenehm.

Dennoch landeten beide Geräte am Ende nicht in einer Schublade, denn für manche Gelegenheiten erwiesen sie sich als sehr praktisch. Der Narrative Clip dokumentierte einen Ausflug durch die grüne Hügellandschaft im nördlichen Kalifornien, der Autographer das Spielen mit meiner einjährigen Nichte.

Die interessantesten Bilder entstanden auf einer Fahrradtour. Die Ersten zeigen noch die Garage, in der die Räder und die Fahrradhelme an Haken hängen. Dann geht es hinaus auf die Straßen von San Francisco, weiter durch Bäume, die aufgrund der Geschwindigkeit verwaschen sind, unter blauem Himmel und Überlandstromleitungen hindurch. Die Kamera zeigte hierbei steil nach oben.

Es machte Spaß, später durch diese Fotos zu blättern. Aber sind sie wirklich wichtig genug, um sich ein solches Gerät anzuschaffen? Für mich eher nicht. Deshalb beschloss ich, mich an jemanden zu wenden, der schon seit vielen Jahren Lifelogging betreibt. Mit meinem Narrative Clip besuchte ich Gordon Bell, 79, Microsoft-Forscher im Ruhestand in San Francisco.

Im Projekt „MyLifeBits“ hat Bell von 1998 bis 2007 fast sämtliche Facetten seines Lebens dokumentiert, nur Gespräche nicht. Er scannte Bücher und Fotos ein, archivierte E-Mails und Instant Messages und hielt die Umgebung mit der von Microsoft entwickelten Kamera SenseCam fest, die ebenfalls um den Hals hängt. Tatsächlich basiert der Autographer, hergestellt von Oxford Metrics Group, auf der SenseCam-Technologie.

MyLifeBits endete 2007, weil zwei von Bells Kollegen Microsoft verließen. Er selbst hat jedoch bis heute nicht mit dem Lifelogging aufgehört. Seitdem ihm im April eine Niere entfernt wurde, trägt er auch eine Smartwatch, die seinen Puls aufzeichnet.

Nach 15 Jahren Lifelogging findet Bell es praktisch, sein digitales Gedächtnis aufrufen zu können. Ihm leuchtet nicht ein, warum wir uns nur auf unser trügerisches biologisches Gedächtnis verlassen sollen. „Ich möchte die echten Begebenheiten, die grundlegende Wahrheit“, sagt Bell. Diese Erinnnerungen jederzeit zur Hand zu haben, gebe ihm ein besseres Lebensgefühl als zuvor, als er noch kein Lifelogging betrieben hatte.

Im MyLifeBits-Projekt wurden die Daten anfangs katalogisiert, um sie in der Datenbank suchen zu können. Später gaben die Forscher die Katalogisierung auf, weil sie für die meisten Menschen zu komplex war. Heute durchsucht Bell seine Lifelogging-Daten auf dem Rechner. Er hat sie eigenen Kategorien wie „persönlich“ oder „beruflich“, „aktiv“ oder „archiviert“ zugeordnet. Fotos und Dokumenten gibt er außerdem Metadaten, etwa, welche Personen auf einem Bild zu sehen sind.

Bell räumt aber ein, dass es noch kein gutes System gibt, all diese digitalisierten Erinnerungen wirklich zu organisieren und wiederaufzurufen. Das fiel mir auch in meinem eigenen kurzen Lifelogging-Experiment auf. Die iPhone-Apps für den Narrative Clip und den Autographer erinnern eher an Fotohalden als an strukturierte Bildersammlungen. Es wird hier noch einer Menge Benutzeroberflächen-Design und Bilderkennung bedürfen, bis Lifelogging die Massen begeistert und auch über Jahre praktiziert wird.

Zumindest die Autographer-App deutet schon eine künftige Methode an, wie man die Daten organisieren könnte: Die untere Hälfte des Bildschirms zeigt eine Karte, die obere die Fotos. Der Ort, an dem das gerade aufgerufene Foto aufgenommen wurde, ist dabei mit einem Punkt in der Karte vermerkt. Zu jedem Bild sind Daten wie Außentemperatur, Ausrichtung der Kamera und Umgebungshelligkeit vermerkt. Viele Daten sind einfach nur weißes Rauschen, der Aufnahmeort hingegen ist nützlich. Denn er aktiviert wieder die eigene Erinnerung: „Ach, da ist das aufgenommen.“

Anind Dey, Professor für Mensch-Computer- Interaktion an der Carnegie Mellon University, hat untersucht, wie Selbstaufzeichnung oder Lifelogging als Gedächtnisstütze für Alzheimer-Patienten dienen können, oder wie sie helfen, das Leben von Autisten besser zu verstehen. Darüberhinaus hält er Lifelogging aber für einen „Nischenmarkt“.

Das liege daran, dass ein allumfassendes Gedächtnis nicht zu der Art passe, wie wir Menschen denken, sagt Dey. „Manchmal denke ich an unangenehme Erlebnisse, aber in meiner Erinnerung habe ich sie besser gemacht. Andernfalls wäre ich ziemlich unglücklich.“

Das empfinde ich auch so. Manchmal ist es ein Segen, dass der Mensch Dinge vergisst. Während meines Tests gab es Momente, die ich nicht noch einmal durchleben möchte, etwa diesen enorm anstrengenden Samstagabend in der Holzwerkstatt meines Verlobten Noah. Der Narrative Clip hielt Stunden der Erschöpfung und des Ärgers fest, als wir mit kleinen Holzstückchen herumhantierten und sie verklebten, für eines seiner Projekte. Ich hatte diesen Abend eigentlich schon wieder vergessen, bis ich einige Bilder sah, auf denen Noahs trauriges Gesicht festgehalten ist. Jedesmal, wenn ich die Bilder sehe, zucke ich zusammen. Dabei ist das bei weitem keine schreckliche Erinnerung, verglichen mit anderen Erlebnissen. Schwer vorzustellen, wie es sich erst anfühlt, wenn ein Bild etwa den Tod eines Verwandten oder eines Freundes zeigen würde.

Mit der Narrative-Clip-App lassen sich Bilder immerhin leicht löschen. Beim Autographer ist es schon etwas komplizierter. Doch selbst wenn ich manche Bilder lösche, kommt eine unschöne Erinnerung in diesem Augenblick noch einmal hoch.

Ich fragte Gordon Bell, ob die Aufzeichnung von allem und jedem es wahrscheinlicher macht, sich auch an Dinge zu erinnern, die man lieber vergessen würde. Er lachte und sagte, er würde solche Daten nicht löschen, sondern in einen Ordner „Schau das nie wieder an“ verschieben. Das war aber nicht als Witz gemeint. Bell ist überzeugt davon, dass auch unangenehme Erinnerungen wertvoll sein können. „Man könnte sie, nun ja, seinem Therapeuten zur Verfügung stellen.“

Ich selbst bleibe lieber dabei, dann und wann Schnappschüsse aus meinem Leben zu machen und mit anderen zu teilen. Ein Foto aufzunehmen hat etwas Schönes, Bedachtes, selbst wenn ich dafür nur einen virtuellen Auslöser auf einem Smartphone-Display drücke. Spielzeuge wie der Autographer oder der Narrative Clip nehmen mir Arbeit ab, gewiss. Aber ihnen fehlt die nötige Größe – genau wie meiner Körperlänge.

(nbo)