Wir fahren schon mal vor

Ob Pendler, Pizzafahrer, Paketzusteller oder Postbote – immer mehr Menschen nutzen Elektrofahrräder. Sie könnten den Verkehr in Stadt und Land stärker verändern als gedacht.

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Von
  • Holger Dambeck

Ob Pendler, Pizzafahrer, Paketzusteller oder Postbote – immer mehr Menschen nutzen Elektrofahrräder. Sie könnten den Verkehr in Stadt und Land stärker verändern als gedacht.

Die Zukunft gehört der Elektromobilität, erklären Autohersteller und Politiker immer wieder. Dabei ist diese Zukunft längst da – nur eben auf zwei statt auf vier Rädern. Zwei Millionen Elektrofahrräder wird es Ende 2014 in Deutschland geben – und die Absatzzahlen steigen von Jahr zu Jahr, von 330000 im Jahr 2011 über 380 000 (2012) bis 410000 im Jahr 2013. Zum Vergleich die Zahl der Elektroautos: Anfang 2014 waren in Deutschland gerade mal gut 12000 zugelassen.

So richtig ernst nehmen will die sogenannten Pedelecs trotzdem kaum jemand. Kanzlerin Angela Merkel spricht lieber vom kaum noch erfüllbaren Ziel, bis 2020 eine Million Elektroautos auf den deutschen Straßen zu haben. Dabei sollte allen klar sein: Die neue Antriebstechnologie kann zwar für saubere Luft und Unabhängigkeit vom Erdöl sorgen, an einigen grundsätzlichen Problemen der Automobilität ändert sie jedoch wenig: Staus und Parkplatznot in Städten verringern sich nur, wenn die Gesamtzahl der Fahrzeuge sinkt.

Wenn die Menschen also beispielsweise auf E-Bikes umsteigen. Sie könnten sich als stiller Revolutionär entpuppen, der – von vielen zunächst unbemerkt – eine ganz neue Mobilität ermöglicht: individuell, schnell, platzsparend, ökologisch. Denn das E-Bike ist gleich in mehreren klassischen Fahrzeuggattungen unterwegs: Es ersetzt normale Fahrräder, aber auch Mofas, Motorräder und sogar Autos, zumindest auf Distanzen bis zu 20 Kilometer.

Ein voller Akku reicht je nach Kapazität, Fahrstil und Topografie für 30 bis 90 Kilometer. Im Vergleich zu Elektroautos hat das E-Bike zudem einen entscheidenden Vorteil: Der Motor muss nur einen Menschen plus das rund 20 Kilogramm schwere Rad bewegen – dafür genügt ein kleiner Akku. In Elektroautos hingegen stecken mehrere Hundert Kilogramm schwere Batterien – das verschlechtert die Ökobilanz.

Weltweit hat der E-Bike-Boom längst begonnen: Auf Pekings Radwegen sieht man häufig mehr Räder mit E-Motor als ohne. In Japan ersetzen Pedelecs Mofas und Motorräder, wie die gegenläufigen Trends bei den Absatzzahlen belegen. E-Bike-Experte Hannes Neupert glaubt, dass im Jahr 2050 weltweit 250 Millionen Zweiräder mit Elektroantrieb verkauft werden. Derzeit sind es rund 30 Millionen. "Das Pedelec ist potenziell das dominante Verkehrsmittel im Jahr 2050", sagt der Gründer des Vereins ExtraEnergy, der seit Jahren intensiv E-Bikes testet.

Vor allem dort, wo bislang eher wenig Rad gefahren wird, hat das Elektrorad eine große Zukunft: in bergigen Gegenden, auf dem Land, in kleineren Städten. Steile Anstiege, heftiger Gegenwind oder Distanzen über zehn Kilometer verlieren ihren Schrecken, wenn der Motor beim Treten hilft. In den Alpen haben Sportgeschäfte nun auch im Sommer ein gut laufendes Verleihgeschäft. Statt Skiern mieten Urlauber E-Bikes, mit denen sie die Berge erklimmen. Auf der Hütte in über 2000 Metern Höhe tauschen sie ihre leer gefahrenen Akkus gegen frische. Die Firma Movelo organisiert den E-Bike-Verleih mittlerweile in fast allen Urlaubsregionen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Der Fuhrpark umfasst 3500 E-Bikes. Großes Potenzial sehen Branchenexperten auch in Pendlern.

Nordrhein-Westfalen plant mehrere Radschnellwege über Land, die besonders für Pedelec-Fahrer interessant sind. Dank Motor kommen sie selbst bei größeren Distanzen auf dem Weg ins Büro kaum ins Schwitzen. In flachen Großstädten dagegen werden wohl weiterhin klassische Fahrräder dominieren, wegen des relativ hohen Gewichts der Elektroräder und dem Mangel an sicheren Abstellplätzen. Hochwertige E-Bikes kosten zwischen 1500 und 4000 Euro. Die lässt man abends nur ungern vorm Kino stehen.

Absehbar ist allerdings, dass E-Bikes die innerstädtische Logistik umkrempeln werden. Die Deutsche Post nutzt bereits 7000 Transporträder mit E-Antrieb. Auch Pizzadienste wie Joey's ersetzen Mofas und Autos durch Pedelecs. Die mögliche Zukunft des urbanen Transportverkehrs kann man in Paris besichtigen. In den notorisch von Autos verstopften Straßen ist für Paketdienste und Lieferanten kaum ein Durchkommen. Die Firma "Vert Chez Vous" löst dieses Problem auf raffinierte Weise.

Außerhalb von Paris werden dreirädrige Cargo-E-Bikes mit Paketen bestückt und in ein Schiff verladen. Das schippert auf der Seine nach Paris, an mehreren Punkten in der Stadt werden die Cargo-E-Bikes mit einem schiffseigenen Kran an Land gehievt – das Verteilen kann beginnen. Die Cargo-Bikes sind abgasfrei, dürfen Radwege und Busspuren benutzen und kommen so schnell ans Ziel. Bei Bedarf werden Akkus getauscht oder neue Pakete vom Versorgungsschiff geholt, das als Depot fungiert. Abends sammelt das Schiff die Lastenräder wieder ein. Am nächsten Morgen beginnt das Spiel von vorn.

Mittlerweile schwant auch den Autoherstellern und -zulieferern, dass die E-Mobilität einen etwas anderen Verlauf nehmen könnte, als in ihren Hochglanzbroschüren abgebildet. Die Mercedes-Tochter Smart und BMW haben daher eigene Pedelecs im Programm. Der Zulieferer Bosch ist inzwischen einer der wichtigsten Motorenhersteller für E-Bikes.

Die Entwicklung ist so rasant, dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten. Immer mehr neue Motorenhersteller drängen mit immer neuen Modellen auf den Markt. Die kurzen Produktzyklen können zum Problem für den Kunden werden, der ein Ersatzteil für ein Rad braucht, das längst nicht mehr produziert wird. Wer nicht nach zwei Jahren einen Haufen Elektroschrott im Schuppen stehen haben will, sollte beim Kauf nicht knauserig sein und ein Bike mit etabliertem Antriebssystem kaufen.

Als schlechte Idee gilt unter Experten der Motor in der Vorderradnabe. Der Frontantrieb wird fast nur noch im Billigsegment genutzt. "Die Sensorik ist oft nicht gut, bei Kurvenfahrten drohen im schlimmsten Fall Stürze, weil das Rad durchdreht", sagt Kay Hollstein vom eBikestore Hamburg. Im Tretlager verbaute Mittelmotoren dominieren den Markt, dabei insbesondere die Systeme von Panasonic und Bosch.

Der Antrieb in der Hinterradnabe ist seltener, aber für sportliche Fahrer und auch Vielfahrer interessant", erklärt Hollstein. Jedes Fahrrad kann damit zum E-Bike umgerüstet werden – der Nutzer muss nur das Hinterrad austauschen. Ein entsprechendes Modell haben Ingenieure am Massachusetts Institute of Technology in Boston unter dem Namen Copenhagen Wheel entwickelt. Allerdings lässt sich nicht jedes Rad umrüsten.

Einen besonderen Weg geht der koreanische Autozulieferer Halla Meister. Er produziert ein E-Bike ohne Kette. Im Tretlager des Modells Mando Footloose steckt ein großer Dynamo, der beim Tritt in die Pedale Strom erzeugt. Dieser Strom und die Energie aus der Batterie treiben den Motor im Hinterrad an.

Der Einfallsreichtum der Entwickler beschränkt sich jedoch längst nicht mehr auf den Antrieb. Das Rad wird zum Smart Bike – Diebstahlschutz und digitale Vernetzung inklusive. Das zeigen exemplarisch Hersteller wie Stromer aus der Schweiz oder Vanmoof aus Holland. Das Modell ST2 von Stromer lässt sich via App an- und abschließen. Wie auch das Vanmoof-Rad Electrified verfügt es über ein integriertes GPS-Tracking. Der Besitzer kann jederzeit nachschauen, wo sich sein Rad gerade befindet – hilfreich im Falle eines Diebstahls.

Wie raffinierte Elektronik das Radfahren sicherer machen kann, demonstriert das Kickstarter-Projekt Vanhawks Valour. Der Carbonflitzer aus Kanada soll mit Sensoren bestückt werden, die überholende Autos über Vibrationen am Lenkergriff ankündigen. Beim Navigieren bleibt das Smartphone in der Tasche, kleine LEDs am Lenker zeigen an, wo man abbiegen muss. So dürfte das vielleicht wichtigste Argument für E-Bikes ausgerechnet das sein, womit ein großer bayerischer Hersteller seine Autos bewirbt: Freude am Fahren. (bsc)