Meinung: Auschwitz-Selfies? Bitte mehr davon!

Jugendliche machen Selfies in Auschwitz und der Medien-Mainstream verfällt in betroffene Schockstarre. Frag sich nur: Warum um Himmels Willen? Das ist doch eigentlich nicht despektierlich, sondern vielmehr extrem erfreulich.

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Von
  • Sascha Steinhoff
Ein Kommentar von Sascha Steinhoff

Sascha Steinhoff ist Redakteur bei c't Digitale Fotografie und schreibt seit 2008 regelmäßig über techniklastige Fotothemen. Privat ist er seit analogen Zeiten bekennender Nikon-Fanboy, beruflich ist er da flexibler. Als Softwarespezialist kümmert er sich insbesondere um die Themen Raw-Konvertierung, Bildbearbeitung und Bildarchivierung.

Im Wochentakt tobt ein neuer Shitstorm durch's Netz, aktuell empört sich die Netzgemeinde über Auschwitz-Selfies. Für diejenigen, die Besseres zu tun haben als im Minutentakt Meldungen zu lesen, hier die Kurzfassung: Junge Menschen aus aller Welt - inklusive Israel, versteht sich - besuchen das Konzentrationslager Auschwitz und machen dann Selfies.

Genauer gesagt, sie setzten sie sich auf diesen Selfies genau so in Szene, wie überall sonst eben auch. Mit Kussmund, breitem oder auch schiefem Grinsen. Was man halt so macht, um gut auszusehen. Egal ob Auschwitz, Eiffelturm oder Disneyland, die Posen sind die gleichen. Den Jugendlichen scheint das auch soweit zu gefallen, an Auschwitz-Selfies herrscht jedenfalls kein Mangel in den sozialen Netzwerken. Selfies in Auschwitz sind generell nicht neu, besonders empört hat die Netzgemeinde aber das oben eingebundene Selfie der jungen Dame, die sich auf Twitter als Princess Breanna bezeichnet.

In den sozialen Medien wurde das Bild aus unerfindlichen Gründen zum "schlimmsten Selfie aller Zeiten" hochgejazzt und diese eingängige Bezeichnung wurde von deutschen Mainstream-Medien ohne Nachfrage übernommen. Anderswo war man da differenzierter. Die Folgen für die Abgebildete waren jedenfalls schwerwiegend. Sie war auf einmal mitten im Zentrum eines ausgewachsenen Shitstorms und musste sich mit unzähligen Beschimpfungen und eigenen Angaben zufolge auch mit Morddrohungen auseinander setzen.

Kritiker halten Selfies in Auschwitz für respektlos. Ihr Argument: An diesem Ort wurden Millionen Menschen grausam ermordet. Wenn man ein Foto macht, Fotografieren ist in Auschwitz ausdrücklich erlaubt, dann doch bitte mit einer der historischen Stätte angemessenen Trauermine. Ich teile diese Meinung nicht, ich halte es im Gegenteil für richtig, dass in Auschwitz junge Menschen für Selfies die gleichen Faxen machen wie anderswo.Bei meiner Recherche konnte ich auch keine Selfies finden, auf denen Jugendliche sich tatsächlich pietätlos verhalten, also beispielsweise rechtsradikales Gedankengut propagieren. Es waren in aller Regel Selbstportäts auf denen sich Jugendliche vor der Hintergrund der historischen Stätte selbst fotografiert hatten. Mal ernst dreinschauend, mal lächelnd. Ich finde das nicht schlimm. Bitte mehr davon! Und dafür gibt es einen simplen Grund: Es ist doch extrem erfreulich, dass heute dort Jugendliche mit ihren Smartphones herumknipsen können.

In den Zeiten des Nationalsozialismus wurden in Auschwitz unzählige Menschen gequält und ermordet. Heute knipsen an gleicher Stelle die UrUrenkel der damaligen Täter und der damaligen Opfer im Gleichtakt ihre Speicherkarten voll. Selbstredend werden die Fotos dann mit Freunden aus aller Welt geteilt. Wenn man den früheren Zustand mit dem heutigen vergleicht, dann ist das doch ein großer Fortschritt, oder?

Ich persönlich glaube auch nicht, dass die Jugendlichen mit diesen Fotos respektlos sein wollen. Das Grauen von Auschwitz ist halt nur verdammt weit weg, wenn man gerade erst 14 Jahre alt ist. Auschwitz ist für die Jugendlichen ungefähr so, wie für uns Erwachsene ein Besuch in einer mittelalterlichen Folterkammer. Gucken Sie etwa traurig, wenn Sie eine Daumenschraube sehen oder eine eiserne Jungfrau? Eben. Es sind furchtbare Folterinstrumente, aber sie entstammen einer anderen Zeit. Es ist so lange her, es betrifft einen schlicht nicht mehr persönlich. Und persönlich betroffen ist man entweder oder man ist es nicht. Anordnen oder erzwingen kann man es nicht.

Man kann es den jungen Leuten nicht verdenken, dass sie die Welt aus ihrem Sichtwinkel fotografieren. So etwas gehört zum Versöhnungsprozess dazu. Das muss man meines Erachtens aushalten, auch wenn man selbst eine andere Sicht auf die Dinge hat.

P.S. Schauen Sie sich mal das Video an, es lohnt sich.

[Update 2014-09-01:] Der Kommentar wurde im Vergleich zur ursprünglichen Fassung inhaltlich ergänzt, Fehler wurden korrigiert.

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