ICANN-Umbau: Internet-Verwaltung mit Grundrechten und nach Vorbild des Roten Kreuzes?

Im Vorfeld des 9. Internet Governance Forums (IGF) in Istanbul fordert eine Studie des Europarats, die ICANN solle die Achtung der Grundrechte in ihre Satzung aufnehmen. Außerdem solle sie eine Internationale Organisation wie das Rote Kreuz werden.

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Von
  • Monika Ermert

Das 9. IGF findet in Istanbul statt.

(Bild: Martin Holland)

Die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) muss die Achtung der Grundrechte zentral in ihre Satzung aufnehmen. Das fordert eine vom Europarat unmittelbar vor dem 9. Internet Governance Forum (IGF) in Istanbul vorgelegte Studie zur privaten Netzverwaltung. Das Papier kritisiert Einschränkungen der Meinungsfreiheit bei der laufenden Vergabe neuer Top Level Domains und konstatiert klare Versäumnisse beim Grundrecht auf Privatsphäre und Datenschutz. Anlässlich der prominent diskutierten Reform der Aufsicht über die private Netzverwaltung empfehlen die Autoren zugleich, diese zu einer Internationalen Organisation im Stil des Roten Kreuzes umzubauen.

ICANN, IANA & Co.: Die Verwaltung des Internets

Diverse Organisationen sind für die Verwaltung des Internets zuständig - die ICANN und die ihr zugeordnete IANA etwa verwalten die weltweiten IP-Adressen und die DNS-Rootzone, die IETF ist für die Protokollstandards verantwortlich. Bis vor kurzem noch bedingte sich die USA die letzte Entscheidungsgewalt aus.

Ökonomische Aspekte, die Interessen finanziell potenter Organisationen und die von Markeninhabern wurden bei der Vergabe der neuen Top Level Domains übermäßig berücksichtigt, warnen die Autoren, die italienische Juristin Monika Zalnieriute vom European University Institute, und der Vizevorsitzende im Lenkungsausschuss für Medien und die Informationsgesellschaft, Thomas Schneider. Der Schutz der freien Meinungsäußerung dagegen und Werte wie Pluralität und Minderheitenschutz kämen zu kurz. Unter anderem würden Einschränkungen potentiell offensiver Ausdrücke etwa in TLDs wie ‘.sucks’ or ‘.fail’ das Recht auf freie Meinungsäußerung beschneiden.

In Bezug auf den Datenschutz geißeln sie die einseitige Berücksichtigung der Interessen der Strafverfolgung in den vergangenen Jahren. Im Ergebnis leistete sich die private Netzverwaltung eine mindestens nach europäischem Recht illegale Vorratsdatenspeicherung für Whoisdaten in den Verträgen mit den Domainregistraren und außerdem unbegründete Eingriffe in die Privatsphäre von Domaininhabern durch breite Veröffentlichungspflichten dieser Informationen.

Zalnieriute und Schneider identifizieren zwei Ursachen für die mangelnde Grundrechtsausrichtung der privaten Netzverwaltung. Erstere sei der Verzicht darauf, der ICANN die Einhaltung verbriefter Menschenrechte per Satzung aufzutragen – und damit den eher allgemeinen Auftrag, im Interesse der Öffentlichkeit zu handeln, zu präzisieren. Das zweite Problem seien ganz offenbar die Regierungen selbst. In ihrer beratenden Funktion innerhalb der ICANN sind sie diejenigen, die auf die Grundrechtsausrichtung hätten drängen müssen.

Pikant an der ICANN-Kritik ist: Schneider ist selbst als Vertreter des Schweizerischen Bundesamts für Kommunikation (BAKOM) Vizechef des Regierungsbeirates der ICANN – mit Ambitionen, im Herbst den Vorsitz zu übernehmen. Da könnte er für die verschiedenen Empfehlungen gleich selbst werben: etwa einen neuen Menschenrechtsausschuss in der ICANN, der frühzeitig auf grundrechtskritische Entscheidungen hinweisen soll.

Besonders weit lehnt sich der Europaratsbericht mit der Idee aus dem Fenster, das rechtliche Fundament der ICANN zu ersetzen. Aus der privaten, nicht gewinnorientiert arbeitenden Firma könnte eine unabhängige Internationale Organisation nach dem Vorbild des Roten Kreuzes werden, so der Vorschlag. Die ICANN dürfe nicht der Gefahr ausgesetzt bleiben, dass Staaten – allen voran die USA – die private Netzverwaltung dominieren. Mit der Aufgabe des so genannten IANA-Vertrags durch die US-Regierung sehen Schneider und Zalnieriute eine guten Zeitpunkt gekommen, über eine “ICANN-Konvention” zu sprechen.

Istanbuls Werbung für das 9. IGF

(Bild: igf2014.org.tr)


Die Reform der IANA-Aufsicht ist eines der Topthemen des 9. IGF. Ein gesamtes Plenum und ein halbes Dutzend Workshops befassen sich damit. Mehr Diskussionszeit gibt es allenfalls noch für das erstaunlich hoch gehandelte Thema Netzneutralität, bei dem unter anderem den Trend zum Zero-Rating debattiert wird, oder das Thema Überwachung, Privatheit und Vertrauen – Snowden lässt grüßen.

Generell bilanziert das ausführliche Programmpapier des offiziell am Dienstag beginnenden IGF, den Schwerpunkt Netz und Grundrechte: 47 der 87 Workshops beschäftigen sich direkt oder indirekt damit. Gerade angesichts der jüngsten Enthüllungen zur Ausspähung der Türkei, und gleichzeitig der Zusammenarbeit von US-amerikanischen und türkischen Geheimdiensten, darf man gespannt sein auf Reaktionen der Gastgeber. Gleichzeitig kann sich die Türkei, deren offizielle Delegation die größte Gruppe unter den rund 3000 erwarteten Teilnehmer stellt, selbst auf Fragen zu ihrer immer rigideren Internetgesetzgebung einstellen.

Verschiedene Bundesministerien schicken insgesamt neun Delegierte zu dem Megaevent über das Internet. Mehr als in der Vergangenheit, aber längst nicht so viel wie etwa die USA, die 50 Diplomaten und Beamte entsendet und bei den Themen IANA-Reform und Überwachung Flagge zeigen will. (mho)