Kommentar: Mein geliebtes Twitter-Rauschen

Twitter zeigt Tweets ungefiltert und in chronologischer Abfolge. Doch künftig soll ein Algorithmus Inhalte aus- und umsortieren. Das ist äußerst schade, findet Daniel Berger.

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Deutschland tut sich ein bisschen schwer mit Twitter. Vielleicht, weil die deutsche Sprache mit ihren berüchtigten Wortzusammensetzungen zu sperrig ist für 140 Zeichen – allein Rindfleischetikettierungsverordnung verbraucht schon 35 Zeichen. Das könnte zumindest der Grund sein, warum gefühlt hauptsächlich Journalisten im deutschen Twitter-Universum unterwegs sind; die sind den schwierigen Umgang mit Deutsch ja gewohnt, sollte man zumindest meinen.

Ein Kommentar von Daniel Berger

Daniel Berger schreibt seit 2013 für c't und heise online. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Blogs, Browsern und sozialen Medien. Außerdem befasst er sich mit Webentwicklung und obskuren Content-Management-Systemen.

Die Zurückhaltung aller anderen kann ich verstehen: So richtig warm bin ich mit Twitter erst vor Kurzem geworden – dabei benutze ich den Microblogging-Dienst seit 2007. Dass ich damals™ aus Rom via SMS meine total aufregenden Beobachtungen twittern konnte, hat mich schon begeistert, irgendwie. Zuhause wusste ich dann aber nicht mehr, was ich eigentlich zwitschern sollte. Die Resonanz auf Tweets wie "Bei Lidl musste ich heute lange anstehen" war auch ziemlich bescheiden. Also lag mein Twitter-Stream lange Zeit brach; wie meine MySpace-Seite.

Seit einigen Monaten beschäftige ich mich wieder verstärkt mit Twitter. Ich habe meine Timeline endlich so eingerichtet, dass mich relevante und unterhaltsame Inhalte erreichen – ich musste halt nur den richtigen Leuten und Angeboten folgen. Twitter hat bei mir inzwischen sogar den RSS-Reader ersetzt.

Relevantes Gezwitscher: Große News-Websites füttern Twitter mir ihren Nachrichten. Ein RSS-Reader ist deshalb überflüssig.

Dass ab und zu mal ein Werbe-Tweet in meinem Nachrichtenstrom auftaucht, stört mich nicht; manchmal klicke ich sie sogar an. Irgendwie muss Twitter ja auch Geld verdienen und mit dieser unaufdringlichen Art der Werbung kann ich ganz gut leben. Sorgen mache ich mir allerdings wegen der Werbe-Videos, mit denen Twitter gerade experimentiert. Und auch die anderen Experimente, die Twitter ausprobieren will, lassen mich in großer Sorge schlecht schlafen. Alpträume prophezeien mir: Mein sorgfältig konfigurierter Twitterstream ist in großer Gefahr!

Seit seinem Start vor acht Jahren zeigt Twitter Inhalte in chronologischer Abfolge, neue Tweets oben, alte unten. Ganz einfach. Twitter-CFO Anthony Noto findet jedoch, dass das nicht die "most relevant experience" sei. Noto befürchtet, dass total wichtige Tweets ungesehen verschwinden könnten. Deshalb will Twitter den Nachrichtenstrom besser organisieren: Algorithmen sollen künftig stärkeren Einfluss auf die Inhalte der Timeline haben. Ob das die skeptischen Deutschen endlich dazu bringt, bei Twitter mitzumachen? Deutsche lieben Algorithmen. Bestimmt. Vielleicht. Nicht?

Nein.

Mir jedenfalls missfallen solche Pläne. Die aus- und umsortierten Inhalte stören mich schon bei Facebook: Im sozialen Netzwerk kriege ich nämlich längst nicht mehr alles zu sehen, was meine Freunde und "Freunde" so veröffentlichen. Was ich sehe, steuert ein höchst komplexer Algorithmus, der anhand der Sternenkonstellation und Mondphasen meinen Newsstream befüllt – zumindest fühlt es sich so an. Viele schöne Sachen fallen dabei weg, nehme ich an. (Viel Unsinn aber auch, na gut, zugegeben.)

Twitter ist kein Facebook und unterschlägt mir bisher keine Inhalte. Das ist gut so, denn ich will bei Twitter alles sehen. Das ungefilterte Rauschen bedeutet für mich Transparenz; alles andere wäre eine milde Form von Zensur. Und es wäre wirklich schade, wenn mir der Algorithmus etwa einen der wunderbaren Tweets von @NeinQuarterly unterschlagen würde. Bei Twitter habe ich außerdem das Gefühl, volle Kontrolle zu haben. Twitter traut mir zu, selbst zu entscheiden, was ich ignoriere. Diese Selbstbestimmung darfst du mir nicht nehmen, Twitter! Nein, nein, nein. (dbe)