Kommentar: Neue SI? Die Maßeinheiten und die Lebenswelt

Auch wenn die Verabschiedung der neuen SI-Einheiten erstmal verschoben ist – die Erneuerung der Grundkonstanten wird dennoch kommen. Was heißt das für die tägliche Laufstrecke oder die richtige Mehlmenge für einen Kuchen, fragt sich Jörg Friedrich.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 262 Kommentare lesen
Kommentar: Maßeinheiten und Lebenswelt

Das Urkilogramm

(Bild: BIPM)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Jörg Friedrich

Die ersten Maßeinheiten hatten mit dem Alltag der Menschen direkt zu tun. Längen wurden durch Abmessen mit Körperteilen wie Fuß oder Elle bestimmt. Zeitabschnitte ergaben sich aus der Tageslänge und dem Sonnenstand, Massen wurden über das Volumen wieder auf Längen, Breiten und Höhen zurückgeführt. Alltägliche Geschäfte konnten so ganz alltäglich abgewickelt werden. Irgendwann meinte man, genauer werden zu müssen, und markierte die Norm-Länge eines Fußes und einer Elle am Rathaus.

Modernität heißt vor allem, sich vom Menschlichen und Alltäglichen zu entfernen. Aus der Elle wurde das Meter, aus dem Klafter das Kilogramm. Niemand konnte mehr Maß nehmen, ohne ein Instrument, ohne ein technisches Hilfsmittel zu benutzen. Das Augenmaß kam in Verruf, das Messgerät wurde zur Notwendigkeit.

Die neuen Einheiten passten aber immerhin noch so gut zum Alltag, dass wir sie uns im Alltäglichen vorstellen konnten. Wir lernten, die Dinge nach den Einheiten abzuschätzen, und wir bauten unsere Welt nach den Einheiten um. Die meisten Alltagsgegenstände haben ihre Größen weniger nach körperlichen Vorlieben oder ästhetischem Geschmack, sondern passend zum metrischen System erhalten. Das Essen kaufen wir nicht nach Hungergefühl, sondern nach Kilogramm. Wir haben unser Leben so eingerichtet, dass das passt, dass wir es gar nicht mehr merken.

Ein Kommentar von Jörg Friedrich

Jörg Friedrich ist Philosoph und Geschäftsführer eines Münsteraner Softwarehauses. Im vergangenen Jahr erschien bei Telepolis sein Buch "Kritik der vernetzten Vernunft - Philosophie für Netzbewohner".

Nun sollen neue Maßeinheiten verbindlich werden, die mit der Lebenswelt gar nichts mehr zu tun haben. Naturkonstanten aus der modernen Physik sollen uns verbindlich sagen, wie weit wir wirklich gejoggt sind, wie lange das Ei kochen muss und welche Menge Mehl in den Kuchen gehört. Das ist nur konsequent, denn die Geräte, die wir im Alltag nutzen, um uns über unser Tun Rechenschaft zu geben, nutzen jene physikalischen Prinzipien und sind so konstruiert, dass sie aus Quantenmechanik eine Laufstrecke, eine Kochzeit und eine Zutatenmenge machen.

Fraglich ist allerdings ob die Physik wirklich bestimmen kann, was im Alltag ein Meter oder ein Kilogramm oder eine Sekunde ist. Die Bedeutungen dieser Begriffe sind durch ihre Geschichte bestimmt und dadurch auch in die Lebenswelt eingebunden. So ein Metallstück in Paris oder die Mehlpackung im Supermarkt, das ist ein Kilogramm. Es mag sein, dass man durch tolle technische Messverfahren diese Größen sehr genau bestimmen kann – das ist nützlich, und niemand hat etwas dagegen.

Aber das ist Sache der Wissenschaft und der Technik. Es ist aberwitzig, dass die Politik sich damit befassen soll, nur weil in früheren Zeiten Könige festgelegt haben, wie lang ein Fuß im Lande ist. Die Politik wäre nur gefragt, wenn Wissenschaftler und Techniker die Länge des Meters neu festlegen wollen würden – aber sie wollen sie ja nur zuverlässiger bestimmen. Wissenschaft und Technik erleichtern die Lebenswelt, aber sie haben nicht die Definitionsmacht über den Alltag. Wieviel Mehl in den Teig gehört und wie er backen soll, kann mir keine Quantenmechanik sagen. Dass der Kuchen gelingt, dazu gehört die Prise Salz ebenso wie das Quäntchen Erfahrung. (axk)