Wenn aus Algorithmen Heldenlieder werden
Anmerkungen zur bemerkenswerten Nähe zwischen Schriftstellern, Poeten und den digital Produzierenden, Programmierern und Level-Designern.
- Peter Glaser
Anmerkungen zur bemerkenswerten Nähe zwischen Schriftstellern, Poeten und den digital Produzierenden, Programmierern und Level-Designern.
Schon vor langer Zeit war mir aufgefallen, dass die meisten Programmierer, mit denen ich befreundet bin, sehr ähnliche Lebens- und Arbeitsgewohnheiten zu haben scheinen wie der Dichter. "Hacker werden von einem intensiven Bedürfnis gedrängt, ihr Medium zu beherrschen, perfekt zu beherrschen", schreibt die Soziologin Sherry Turkle. "In dieser Hinsicht gleichen sie dem Konzertpianisten oder dem Bildhauer, der von seinem Material besessen ist. Auch Hacker werden von ihrem Medium 'heimgesucht'. Sie liefern sich ihm aus und betrachten es als das Komplizierteste, das Plastischste, das am schwersten Fassbare, als größte Herausforderung ihres Lebens."
Bei Vergleichen zwischen literarischen Sprachen und Programmiersprachen – beides artifizielle Konstrukte – fielen mir auf, wie sehr sich große Softwareprojekte, etwa Spiele, und archaische Epen ähneln, die über Generationen durch die Geschichte weitergereicht werden und sich kaum noch auf einen Autor – wie etwa Homer – zurückführen lassen: "Diese gigantischen Computersysteme", schrieb Joseph Weizenbaum 1977 in seinem Grundlagenwerk "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft", "sind in der Regel von Programmiererteams zusammengestoppelt worden (man kann wohl kaum sagen: konstruiert), deren Arbeit sich oft über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckt.
Wenn das System dann endlich gebrauchsfertig ist, haben die meisten der ursprĂĽnglichen Programmierer gekĂĽndigt oder ihr Interesse anderen Projekten zugewandt, so dass, wenn diese gigantischen Systeme schlieĂźlich benutzt werden, ihr innerer Ablauf von einem einzelnen oder einem kleinen Team nicht mehr verstanden werden kann."
Wie es sich für solche Mythen gehört, ist es auch bei großen Programmen nicht mehr ein Erzähler, der den Text erstellt, sondern es sind viele Autoren, die einander in der Arbeit am Text ergänzen oder abwechseln. Auch die Anwender von Programmen arbeiten an der Formung des Textes mit, indem sie frühzeitig vertriebene Programmversionen durch an die Entwickler gerichtete Beschwerden, Hinweise und Vorschläge ausschmücken helfen.
Begriffe wie Hochtechnologie verstellen den Blick darauf, dass wir uns, was Computer angeht, in einer Vorzeit befinden: im Übergang von der Eisenzeit (ab ca. 1200 v. Chr.) in die Siliziumzeit (ab ca. 1964, mit der Herstellung der ersten mikroelektronischen Halbleiter-Schaltungen). Es ist auch kein Zufall, dass die Schrift in ihren Anfängen nicht dazu diente, Ideen religiöser oder anderer Art zu vermitteln, sondern um im Tempel Aufzeichnungen über Vorräte und die Verteilung von Wirtschaftsgütern zu führen.
Älteste Sprachfiguren wiederholen sich in den zeitgenössischen Programmiersprachen: "Die Magie selbst bewahrte lange Zeit ein noch primitiveres Merkmal der Sprache, das aus dem Ritual stammte: Ein Großteil aller magischen Formeln besteht aus einer präzisen Aneinanderreihung sinnloser Silben, die bis zum Überfluss wiederholt werden", schrieb der Kulturphilosoph Lewis Mumford.
In den Programmiersprachen sind diese Wiederholungen verdichtet worden zu Schleifen-Befehlen. Sie sind die Refrains, die aus Algorithmen Heldenlieder machen oder uns jedenfalls die Nähe zu den uralten Formen des Langgedichts spüren lassen. Auch die mächtigen reservierten Worte der Codes decken sich mit Bedeutungspotenzialen der klassischen Lyrik, in der ein Begriff wie "Rose" nicht einfach für eine rote Blume steht, sondern eine Mannigfaltigkeit von Interpretationsmöglichkeiten um sich hat. Eine Matrix. Einen digitalen Duft. (bsc)