IBM testet neues Konzept für Künstliche Intelligenz

Ein eng am menschlichen Gehirn angelehntes Konzept soll Maschinen besser lernen lassen. Es stammt vom Palm-Gründer Jeff Hawkins – und weckt nach vielen Jahren jetzt auch das Interesse einer IT-Branchengröße.

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  • Tom Simonite

Ein eng am menschlichen Gehirn angelehntes Konzept soll Maschinen besser lernen lassen. Es stammt vom Palm-Gründer Jeff Hawkins – und weckt nach vielen Jahren jetzt auch das Interesse einer IT-Branchengröße.

Jeff Hawkins ist der Gründer des Mobilcomputer-Pioniers Palm. Seit nunmehr gut einem Jahrzehnt widmet er seine Zeit und sein Vermögen einer Theorie, die eine Erklärung für die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und damit die Vorlage für eine mächtige neue Art von Software für Künstliche Intelligenz liefern soll. Bislang allerdings hat Hawkins neues Unternehmen Numenta in der Tech-Industrie wenig bewegt – obwohl Maschinenlernen für Unternehmen wie Google längst ein zentrales Thema geworden ist.

Jetzt aber zeigt endlich ein Technologieriese Interesse an dem Konzept: IBM hat in seinem Labor in San Jose im US-Bundesstaat Kalifornien eine Forschungsgruppe eingerichtet, die mit den Lernalgorithmen von Numenta arbeiten soll. Sie werden hier für Aufgaben wie die Interpretation von Satellitenbildern getestet, außerdem entwickelt die Gruppe spezielle Computer, die Hawkins’ Ideen in Hardware umsetzen sollen. Laut Hawkins arbeiten etwa 100 Personen an dem Projekt, das intern als Cortical Learning Center bezeichnet wird.

IBM war nicht bereit, den Projektleiter Winfried Wilke für ein Interview zugänglich zu machen. Allerdings hat Wilke die Arbeit bei einer Konferenz im Sandia National Lab in diesem Februar bereits öffentlich beschrieben. Die Numenta-Software sei näher an der biologischen Realität als andere Maschinenlern-Software, lobte er, und sie lerne effizienter, einen Sinn in rohen Daten zu finden. Normalerweise müssen Experten lernende Software zunächst mit Beispieldaten trainieren. Mit den Numenta-Algorithmen, so sagte Wilke, lasse sich Maschinenlernen auf weitaus mehr Probleme anwenden.

Maschinenlernen wird von Google und anderen IT-Unternehmen für unterschiedliche Aufgaben intensiv genutzt, von der Kategorisierung von Bildern bis zur Verarbeitung gesprochener Sätze. Viele Forscher konzentrieren sich inzwischen auf eine Technik namens Deep Learning, bei der mehrschichtige Netze von künstlichen Neuronen trainiert werden, Muster in Daten zu finden. Die Ergebnisse sind bemerkenswert, aber Deep Learning ist nicht eng an das biologische Vorbild angelehnt.

Auch die Algorithmen von Numenta operieren in einem Netzwerk. Jedoch sind sie so ausgelegt, dass sie originalgetreu das Verhalten von wiederholten Strukturen aus rund 100 Neuronen wiederholen, die im äußeren Bereich des Hirns namens Neocortex zu finden sind.

„Unser Ziel ist nicht, biologisch inspiriert zu sein. Ich möchte die Biologie exakt nachbilden“, erklärt Hawkins. Seiner Meinung nach basiert die Fähigkeit des Gehirns, die Welt zu verstehen, auf diesen wiederholten Strukturen. Sie in Software nachzubilden, werde Maschinenlernen deshalb ganz neue Fähigkeiten geben. „Auf diese Weise würde man echte Maschinenintelligenz schaffen“, sagt Hawkins.

In seinem Vortrag auf der Sandia-Konferenz sagte Wilcke, Numenta habe die richtige Balance zwischen Nähe zur Biologie und praktisch einsetzbarer Software gefunden. „Sie scheinen die goldene Mitte erwischt zu haben“, sagte er. „Die Software ist nicht übermäßig simplifiziert, aber auch nicht so kompliziert, dass man kaum eine Chance hätte, jemals ein Modell im großen Maßstab zu bauen.“

Die IBM-Gruppe will die Numenta-Algorithmen dafür nutzen, Satellitenbilder von Kornfeldern auszuwerten; außerdem sollen sie in Daten von Pumpen und anderen Maschinen frühe Anzeichen für mechanische Probleme entdecken. Darüber hinaus beschrieb Wilcke Pläne für einen neuartigen Computer, der eine Art physisches Abbild der Numenta-Algorithmen darstellt.

Nach dem Plan sollen mehrere Siliziumwafer übereinander gestapelt werden. Physische Verbindungen zwischen ihnen würden dann die von den Numenta-Algorithmen beschriebenen Netze entstehen lassen.

Manche Informatiker und Neurowissenschaftler sehen Hawkins’ Ideen kritisch und sagen, sie würden ihre Versprechen nicht erfüllen. Einer von ihnen ist Gary Marcus, ein Psychologieprofessor an der New York University und Mitgründer eines KI-Startups namens Geometric Intelligence. Nach seinen Worten sind die Numenta-Modelle tatsächlich näher an der Funktionsweise des menschlichen Gehirns als künstliche neuronale Netze. „Aber sie sind immer noch übersimplifiziert“, sagt er. „Und bislang habe ich noch kein schlagendes Argument dafür gesehen, dass sie auf irgendeinem schwierigen Gebiet bessere Performance zeigen.“

Laut Marcus imitieren Hawkins’ Algorithmen nur einen Teil der bekannten Hirn-Mechanismen, das zu großen Teilen immer noch ein Mysterium sei. Demonstrationen der Numenta-Technologie seien bislang begrenzt gewesen: „Ich habe noch nicht gesehen, wie sie mit natürlicher Sprache umgeht oder auch nur den neusten Stand der Technik bei der Bilderkennung erreicht.“

Hawkins selbst sieht das Interesse von IBM als Beweis für den Wert seiner Ideen. Doch er scheint es nicht besonders eilig damit zu haben, sie konkret zu vermarkten. Einen früheren Plan, mit einer Ende 2013 auf den Markt gebrachten Numenta-Software namens Grok Geld zu verdienen, hat er bereits wieder aufgegeben; Grok sucht nach Anomalien in den Log-Dateien, die von Software in der Cloud protokolliert werden. Laut Hawkins soll die Software bald kostenlos zur Verfügung gestellt werden.

Unterdessen beschäftigen sich die ungefähr 20 Mitarbeiter von Numenta damit, die auf der Grundlage von Hawkins’ ursprünglicher Theorie entwickelten Algorithmen zu perfektionieren. Ein Schwerpunkt liegt dabei darauf, die Software in der Lage zu versetzen, zu lernen, wie Motoren und andere physische Anlagen gesteuert werden. Das könnte nützlich in der Robotik sein – eines Tages. „Wir haben das große Glück, dass wir – wegen mir selbst und anderer Investoren – nicht gezwungen sind, daraus sofort ein Geschäft zu machen“, sagt Hawkins. „Wir sind der Meinung, dass wir geistiges Eigentum als Grundlage für die nächsten 30 Jahre der Computertechnik schaffen.“

(sma)