Hintergrund: Der ICANN-Wahlkampf läuft an
Im europäischen Internet-Wahlkampf sind die drei deutschen Bewerber um einen Sitz im Direktorium der ICANN sehr aktiv.
Vielleicht bereuen manche Kandidaten für einen Sitz im Direktorium der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) ihre Kandidaturen schon wieder – der erste europäische Internet-Wahlkampf der fünf von ICANN nominierten und der zwei von den Usern gewählten Kandidaten fordert auf jeden Fall eine Menge "Aufmerksamkeits"-Arbeit. Das von ICANN eingerichtete Frage-Antwort-Forum ist nur eine Adresse, unter der die Kandidaten den Wählern Rede und Antwort stehen sollen. Morgen abend zwischen 18 und 20 Uhr können Wähler fünf der sieben europäischen Kandidaten beim Chat auf den ICANN-Europe-Seiten des Fördervereins Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG e.V.) treffen. Am Montag zwischen 15 und 16 Uhr sind die drei deutschen Kandidaten auf dem Tagesspiegel-Podium zu beobachten, das per Live-Stream auch im Internet verfolgt werden kann. Alle Europa-Kandidaten hätte man leider nicht dazu bitten können, bedauerten die Berliner Redakteure, das wäre babylonisch geworden.
Ohnehin werden den drei deutschen Kandidaten die besten Chancen bei der Wahl vom 1. bis 10. Oktober eingeräumt. Im Wahlkampf gehören sie zu den Aktivsten, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Die Berliner Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann, neben Chaos-Computer-Club-Sprecher Andy Müller-Maguhn von den Mitgliedern auf die Kandidatenliste gehievt, läßt kaum eine Frage auf einer Mailing-Liste unbeantwortet. 250 bis 300 Mails erhält sie täglich, mindestens 50 substantielle Antworten pro Tag kann sie bewältigen. Wie der norwegische Kandidat Alf Hansen, ebenfalls zu Antworten auf alle Fragen der User bereit, beantwortet sie grundsätzliche ICANN-Fragen in einer FAQ. Trotzdem bedeutet der Wahlkampf für sie zur Zeit sieben Tage Arbeit in der Woche. Ein bisschen zusätzliche Werbung für Hofmann kommt vom US-Kandidaten Lawrence Lessig, der ihre Wahl empfiehlt.
Top-Favorit Müller-Maguhn, der mit mehr Stimmen als jeder andere Kandidat weltweit nominiert wurde, ist der Medienliebling – über ihn berichtet nun auch der deutsch-französische Kulturkanal Arte Anfang Oktober in einer Info-Sendung. Dem Medieninteresse nicht nur zum Thema ICANN muss der Berliner allerdings so viel Zeit widmen, dass er wenig an den Diskussionen über Mailing-Listen teilnehmen kann.
Für die perfekte eigene Wahlkampf-Website samt allwöchentlichem Chat jeden Donnerstag um 17 Uhr, wie sie Winfried Schüller hat, reicht es da nicht mehr. Schüller, der wochenlang Anfragen an die Telekom-Pressestelle weitergeleitet hatte, verfügt eindeutig über das stärkste Back-Office. Obwohl er inzwischen betont, er kandidiere als Privatmann, kann man davon ausgehen, dass er seine Seiten nicht privat pflegt. Als Eigentümer der Domain winfriedschueller.de ist jedenfalls die Telekom-Tochter Te De Nova Berkom ausgewiesen. Auf eine ähnliche Unterstützung hätten wohl allenfalls die von verschiedenen Industrieverbänden favorisierten Kandidaten verfügen können, die allerdings nicht die notwendigen Nominierungsstimmen erhalten hatten. Letztlich bleibt die "private" Telekom-Kandidatur problematisch und die Aussage Schüllers, dass es keine Konfliktsituationen für den At-Large-Vertreter und Telekom-Mitarbeiter geben wird, wirkt naiv. Mit ähnlichen Vorbehalten hat übrigens auch der ebenfalls nominierte France-Telecom-Mitarbeiter Olivier Muron zu kämpfen.
Welche Wahlkampfstrategie aufgeht und ob die Faktoren Nationalität, professioneller Hintergrund, Web-Präsenz oder Medienbekanntheit den Ausschlag geben werden, bleibt abzuwarten. "Wir können die Faktoren nicht gewichten, weil wir die Wählerschaft nicht kennen," sagt Thomas Roessler von FITUG. Trotz vieler Bemühungen um die statistische Auswertung der At-Large-Bewegung, ist derzeit noch nicht einmal klar, wie sich die Europa-Wählerschaft genau zusammensetzt. "Wir wissen auch nicht, wer der User eigentlich ist", sagt Roessler. Obwohl nach der umständlichen Prozedur der Wählerregistrierung nur noch die Hälfte der ursprünglich interessierten Mitglieder verblieben ist, stellt die Zusammensetzung der 76.504 Wähler den Unsicherheitsfaktor Nummer eins dar. Die ICANN-Europe-Liste, einziges europäisches Forum, das Kandidaten und Wähler aus den verschiedensten Ländern zusammengebracht hat, könnte so etwas wie eine Keimzelle für Europas ICANN-Öffentlichkeit werden. Darauf hoffen die ehrenamtlichen Organisatoren. In den USA wird ICANN-Europe bereits als Modell gehandelt.
Die Nordamerika-Kandidaten wurden indessen vom Berkman Center fĂĽr den 2. Oktober eingeladen. In den anderen drei Regionen Afrika, Asien/Pazifik und Lateinamerika/Karibik dĂĽmpelt der Wahlkampf demgegenĂĽber nur mĂĽde vor sich hin: Auf dem Frage-und-Antwort-Forum fĂĽr die Lateinamerika-Kandidaten hat sich noch gar niemand gerĂĽhrt. Auf der Asien-Seite wird vor allem ĂĽber Nicht-ICANN-Themen wie beispielsweise die Haltung der Kandidaten zu Chinas Ein-Land-Zwei-Systeme-Problem diskutiert. (Monika Ermert) (chr)