Genetik: Dieser Mann weiß mehr über die Isländer als sie selbst

Das Biotech-Unternehmen DeCode Genetics hat die DNA von 10.000 Isländern vollständig sequenziert. Dabei ist es auf einen ethischen Konflikt gestoßen.

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Kári Stefánsson weiß mehr über die Isländer als sie selbst

(Bild: DeCode Genetics/Chris Lund)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Antonio Regalado
Inhaltsverzeichnis

Kári Stefánsson steht vor einem Problem: Er weiß von praktisch allen Einwohnern Islands, ob sie ein erhöhtes Krebsrisiko haben. Doch er darf sie nicht warnen – aus rechtlichen Gründen, berichtet Technology Review in seiner aktuellen Ausgabe (am Kiosk oder online zu bestellen). Stefánsson ist Chef des isländischen Biotech-Unternehmens DeCode Genetics, das zum US-Unternehmen Amgen gehört, dem weltgrößten Biotechnologiekonzern. Es hat die DNA von 10.000 Isländern – etwa jedem dreißigsten Einwohner – vollständig sequenziert. Und weil die Menschen auf der Insel eng miteinander verwandt sind und ihre Stammbäume bis zur Zeit der Besiedlung im 9. Jahrhundert dokumentiert sind, lassen sich daraus Erbinformationen für praktisch alle Einwohner ableiten. Einschließlich derer, die nie an einem Gentest teilgenommen haben.

Stefánsson sagt, seine Firma könne auf Knopfdruck etwa 2000 Menschen mit Mutationen des Gens BRCA2 identifizieren. Diese Erbgutveränderung erhöht bei Frauen das Risiko für Brust- und Eierstockkrebs und senkt ihre Lebenserwartung um rund zwölf Jahre. Bei Männern erhöht sich das Risiko von Prostatakrebs. DeCodes Daten sagen möglicherweise auch vorher, welche Einwohner mit erhöhter Wahrscheinlichkeit an Alzheimer erkranken oder an einer Lernstörung leiden.

Stefánsson verhandelt derzeit mit den Gesundheitsbehörden darüber, ob die Menschen gewarnt werden sollen. Doch das wirft komplexe rechtliche, medizinische und ethische Fragen auf. Den freiwilligen Teilnehmern der Studien wurde versprochen, dass sie anonym bleiben und keine Ergebnisse erfahren werden. Bioethiker sind der Meinung, bei genetischen Risikofaktoren gebe es ein "Recht auf Nichtwissen".

"Sie können genetische Daten nur verwenden und offenlegen, wenn Sie das Einverständnis der betroffenen Person haben", sagt Gísli Pálsson, Anthropologe an der Universität Island. "Aber hier geht es weit darüber hinaus. Die Menschen haben nicht einmal an den Studien teilgenommen, sie haben weder ihr Einverständnis noch eine DNA-Probe abgegeben. Und doch behauptet die Firma, Kenntnisse über sie zu besitzen und ihr Krankheitsrisiko einschätzen zu können." Pálsson glaubt, dass die ethischen Standards grundlegend geändert werden müssen, um der Gesundheit mehr Gewicht gegenüber der Privatsphäre zu verschaffen.

"Wir könnten diese Menschen vor einem vorzeitigen Tod retten, tun es aber nicht, weil wir uns als Gesellschaft nicht darauf geeinigt haben", sagt Stefánsson. "Ich persönlich halte das für ein Verbrechen." Amgen-Forschungsleiter Sean Harper gibt zwar zu: "Aus der Bioethik-Perspektive ist das eine Grauzone." Seine Firma, die Ergebnisse von DeCode für die Entwicklung neuer Medikamente verwendet, tendiere jedoch dazu, die Daten kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Das isländische Sozialministerium hat nun einen Sonderausschuss gebildet, der bis Ende des Jahres Regeln vorschlagen soll. Das Ergebnis könnte ein Präzedenzfall werden, der weit über Island hinausreicht. Schon heute stehen Ärzte oft vor dem Dilemma, dass DNA-Tests auch viel über das Erbgut naher Verwandter verraten. Privatunternehmen wie 23andMe oder Ancestry.com, die bereits die Gene mehrerer Millionen Menschen kartiert haben, verlagern das Problem auf die Ebene ganzer Nationen. Das bedeutet: Die ganze Welt wird irgendwann mit den gleichen ethischen Fragen konfrontiert wie Island. (jle)