Neustart beim menschlichen Referenzgenom

Viele Jahre lang hat die Gen-Karte des Human Genome Project gute Dienste geleistet. Trotzdem ist ihr Nutzen begrenzt, so dass Wissenschaftler jetzt eine Art Universalgenom entwickeln wollen.

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Von
  • Antonio Regalado

Viele Jahre lang hat die Gen-Karte des Human Genome Project gute Dienste geleistet. Trotzdem ist ihr Nutzen begrenzt, so dass Wissenschaftler jetzt eine Art Universalgenom entwickeln wollen.

Das Human Genome Project war einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Erfolge der Menschheit. Doch die dabei entstandene offizielle Gen-Karte aus dem Jahr 2003, bezeichnet als das „Referenzgenom“, reicht heute nicht mehr aus.

Das jedenfalls sagen Wissenschaftler, die Pläne für eine neue universelle Gen-Karte schmieden. Sie soll aus den Genomen von Hunderten und irgendwann sogar Tausenden Menschen bestehen und so eine Referenz schaffen, die tatsächlich für die gesamte Menschheit steht.

Das Problem bei der bisherigen Gen-Karte ist, dass sie nur eine der Möglichkeiten zeigt, wie das Genom eines Menschen aussehen könnte. Die geplante neue Variante, bezeichnet als „Graph-Genom“ oder „Pan-Genom“, dagegen würde mit Hilfe mathematischer Verfahren jede denkbare Variation eines menschlichen Genoms wiedergeben.

„Es ist eine sehr neue Technologie. Aber in weniger als fünf Jahren wird jeder damit arbeiten“, sagt Gabor Marth, ein Genetiker an der University of Utah.

Die Mathematik hinter der Idee wird als Graphentheorie bezeichnet. Wenn Sie das Gesellschaftsspiel „Six Degrees of Kevin Bacon“ kennen, wissen Sie auch schon ein wenig über diese Theorie: Jeder Schauspieler ist ein Knoten, und wenn er zusammen mit einem anderen in einem Film aufgetreten ist, ergibt das eine Kante. Bei dem Spiel geht es darum, über möglichst wenige Kanten zu dem Schauspieler Bacon zu gelangen.

Bei einem Graph-Genom ist das Ziel, auf ähnliche Weise einen Pfad durch die genetischen Buchstaben zu finden, der genau Ihren entspricht. Wenn jeder denkbare Pfad abgebildet wird, und genau darin liegt die Idee des Vorhabens, kann die Interpretation von Genomen schneller, billiger und genauer werden.

Bislang wurden erst die Genome von weniger als 250.000 Menschen sequenziert. Weil die Sequenzierung zunehmend zur Routine bei Diagnosen in Kinderkrankenhäusern und Krebszentren wird, dürfte sich diese Zahl jedoch jedes Jahr verdoppeln. Manche gehen sogar davon aus, dass bald das Genom jedes Neugeborenen entschlüsselt wird.

Genau zu analysieren, wie sich jedes davon von den anderen unterscheidet, ist der Sinn der neuen Gen-Landkarte. Das Labor von Marth ist eines von mehreren akademischen Teams, die an Prototypen für ein Graphen-Genom arbeiten. Im Juni sollen die Vorschläge bei einem Standardisierungsgremium eingereicht werden.

Auch kommerziell weckt das Projekt Interesse. Das Genanalyseunternehmen 23andMe entwickelt Graphen, und andere Firmen wie Google schauen genau hin, sagt Benedict Paten, Forscher an der University of California in Santa Cruz. „Jeder ist daran interessiert, eine Abbildung der ganzen Menschheit in einer einzigen grundlegenden Datenstruktur zu bekommen“, sagt er.

Das Problem bei der jetzigen Referenz ist nicht nur, dass sie immer noch lückenhaft ist und aus DNA besteht, die nach Frankenstein-Art von ungefähr einem Dutzend unterschiedlicher Menschen zusammengemischt wurde. Bedeutender ist: Weil sie auf nur einer bestimmten Kombination der gut drei Milliarden Buchstaben, aus denen ein menschliches Genom besteht, basiert, eignet sie sich nur bedingt dafür, auch das Erbgut von anderen Personen zu analysieren.

Die Schwierigkeiten beginnen, wenn ein neues Genom mit Hilfe von Maschinen, die DNA zunächst in Millionen kleiner Stücke zerlegen, sequenziert wird. Um die Fragmente wieder zusammenzusetzen, wird die Referenz zu Rate gezogen – ähnlich wie bei einem Puzzle das Bild auf dem Karton. Üblicherweise bleiben dabei aber 5 Prozent der DNA-Daten einer Person übrig, für die keine passende Stelle gefunden wird.

„Je stärker Sie sich von der Referenz unterscheiden, desto schwieriger ist es, alle Stücke unterzubringen“, erklärt David Mittelman, Chief Scientific Officer der Bioinformatikfirma Tute Genomics. „Und wenn man die Unterschiede nicht findet, findet man auch die Risiken nicht.“

An der Entwicklung eines Graphen beteiligte Wissenschaftler gehen nach eigenem Bekunden davon aus, dass sich ihre Idee durchsetzen wird – selbst wenn die im Human Genome Project entstandene Karte dadurch zu den Akten gelegt wird. „Es ist ein bisschen lächerlich, jeden gewaltsam durch die Brille dieses einen Referenzgenoms zu betrachten“, sagt Michael Schatz, ein Bioinformatiker am Cold Spring Harbor Laboratory. „Die erste Abbildung des menschlichen Genoms war ein enormer Meilenstein, aber mittlerweile sind wir ihm entwachsen. Es ist Zeit für einen Neuanfang.“

(sma)