Gerichtshof: Verlagsportal für Nutzer-Beleidigungen verantwortlich

Die Online-Kritik an einem estnischen Fährschiffer fiel unflätig aus. Er kann dafür Schadensersatz verlangen, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Auf die hiesige Rechtslage dürfte die Entscheidung keine Auswirkungen haben.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 69 Kommentare lesen
Europäischer Gerichtshof

(Bild: EGMR)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Holger Bleich

Eine Nachrichtenwebseite aus Estland ist für anonyme Kommentare verantwortlich und muss Bedrohungen und Hetze auch ohne einen Hinweis von Betroffenen löschen. Eine Forderung von Schadensersatz gegen das Portal sei daher rechtens, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am heutigen Dienstag in Straßburg und bestätigte damit ein eigenes Urteil aus dem Jahr 2013.

Das Urteil gilt für den konkreten Fall in Estland und muss in anderen Staaten bei einer anderen rechtlichen Ausgangsposition so nicht umgesetzt werden. Das Gericht befand jedoch auch, dass die geschützte Meinungsfreiheit nicht eingeschränkt werde, wenn Mitgliedsstaaten die Betreiber von Webseiten zum Entfernen von offenkundig rechtswidrigen Kommentaren verpflichten.

Der Fall betraf wütende und unflätige Anfeindungen ("hate speech") gegen einen Fährschiffer, die anonyme Verfasser auf einer großen estnischen Nachrichtenwebseite hinterlassen hatten. Bei dem Streit ging es um die Frage, ob in Estland Fähren vor der Küste das Eis brechen und eine Auto-Überfahrt unmöglich machen dürfen. Gerichte des Landes hatten den Betreiber des Nachrichtenportals, die Delfi AS, deswegen zu einer Geldstrafe verurteilt.

Die Nachrichtenseite hatte die anstößigen Kommentare am selben Tag entfernt, an dem die Anwälte des Opfers dies gefordert hatten. Dies ist das gängige Verfahren auch in Deutschland. Das bestätigten die Straßburger Richter im Prinzip. Allerdings hätten die Kommentare in diesem Fall "Hetze und direkte Drohungen gegen die körperliche Unversehrtheit von Personen" enthalten. In einer solchen Situation könnten die Betreiber von Portalen verpflichtet werden, die Drohungen auch ohne einen Hinweis von Betroffenen zu entfernen.

Das Gericht verlangte nicht, dass Webseiten alle Wortmeldungen von vornherein filtern müssten. Allerdings wäre Delfi nach Meinung der Richter durchaus in der Lage gewesen, schneller zu handeln – die Kommentare standen rund sechs Wochen online. Der Betreiber habe die technischen Möglichkeiten gehabt, Kommentare zu kontrollieren. Es gäbe ein automatisches Löschsystem, um vulgäre Begriffe herauszufiltern, und ein Warnsystem, mit dem andere Nutzer die Netzverwalter über Beleidigungen informieren können. Außerdem habe die Nachrichtenseite auch in anderen Fällen von sich aus Kommentare gelöscht. Somit übten die Betreiber ein gewisses Maß an Kontrolle über den Kommentarbereich aus.

Delfi hatte vor dem Gerichtshof geklagt, weil es sein Recht auf Meinungsfreiheit verletzt sah. Diese Klage haben nun die 17 Richter der großen Kammer mit 15 gegen zwei Stimmen zurückgewiesen. Das Urteil der estnischen Gerichte sei "eine berechtigte und angemessene Beschränkung der Meinungsfreiheit des Portals" gewesen, hieß es in der Urteilsbegründung. Die vom estnischen Gericht verhängte Schadensersatz-Summe von umgerechnet 320 Euro sei nicht übertrieben.

Dabei hebt das Gericht hervor, dass sich die Entscheidung nur auf die Pflichten eines professionell geführten Internet-News-Portals bezieht, welches seine Leser auffordert, Kommentare zu den veröffentlichten Beiträgen abzugeben und hiervon auch wirtschaftlich profitiert. Ausdrücklich weisen die Richter weiter darauf hin, dass die Entscheidung nicht Diskussionsforen oder Bulletin Boards umfasst, wo Nutzer untereinander Meinungen austauschen können und die von Privatpersonen betrieben werden. Gleiches gilt für Social-Media-Plattformen wie Facebook.

Größere Auswirkungen auf die Rechtslage in Deutschland dürfte die Entscheidung ohnehin nicht haben, da es hierzulande bereits eine ähnliche Rechtsprechung gibt. Danach ist ein Forenbetreiber grundsätzlich verpflichtet, rechtswidrige Beiträge nach einem entsprechenden Hinweis zu löschen. In Ausnahmefällen erhöhen sich jedoch die Pflichten zur Aufsicht über ein Forum. Dies gilt etwa dann, wenn auf Basis eines Beitrags mit einem umstrittenen Thema mit besonders heftigen Reaktionen der Leser in den Kommentaren zu rechnen ist. (Mit Material der dpa) / (hob)