Paranoia Parents
Es ist eines der sichersten Länder der Welt, aber die gefühlte Bedrohung verhilft Anbietern von Kinder-Überwachungs-Hightech in Japan zu neuen Geschäften.
- Martin Kölling
Je weniger Kinder eine Gesellschaft hat, desto paranoider wird sie anscheinend. Schon jetzt benutzen rund zehn Prozent aller GrundschĂĽler ein Sicherheits-Kinder-Handy. Jetzt kommt eine hochgerĂĽstete Version von Kinder-Handys auf den Markt, die nicht mehr nur einfach als GPS-Positions- und Gefahrenmelder dienen. Bei seiner jĂĽngsten Offerte hat der Mobilfunkanbieter Docomo den Eltern noch einmal genau ins besorgte Herz gesehen und eine Reihe von neuen Features in die Mobiltelefone gepackt, um die Ăśberwachung auf ein neues Niveau zu hieven.
Die neuen Geräte sind künftig wasserdicht und halten damit auch mal einen tropischen Regenschauer aus. Auch haben sie eine Fernbedienung in der Form einer Uhr, die das Kind warnt, wenn es sich zu weit vom Handy entfernt. So wird das Vergessen erschwert. Der Sicherheitsalarm wurde um eine stark leuchtende LED aufgestockt. Außerdem haben die Geräte einen Alarmknopf, mit dem die Kinder ihre Kontaktperson bei Gefahr sofort benachrichtigen können, ohne das der Angreifer (oder Kidnapper) es merkt.
Nicht nur die Telekom-Industrie ist auf den Zug aufgesprungen. Der Elektronikhersteller Omron hat seine Ticket-Tore an diversen U- und S-Bahnen mit dem Dienst Goopas ausgestattet, der der Mama zu Hause aufs Handy anhand des Fahrkarteneinschubs meldet, wann und wo ihr Kind in die Bahn ein- oder aussteigt. Nebenbei: Für Ehemänner soll das System nicht eingeführt werden, obwohl die Ehefrau bei ausreichender Vorabmeldung das warme Abendessen pünktlich auf den Tisch stellen könnte. Der Verzicht auf dieses Geschäft habe etwas mit dem "Schutz der Privatsphäre" zu tun, sagt ein Omron-Manager. Er hat wohl Angst, dass die Zahl der Ehescheidungen bei zu genauer Ortung des Gatten steigen würde.
Der Grund für das explodierende Unsicherheitsgefühl der Eltern sind vor allem Medienberichte, weniger die reale Lage in den Straßen. Die Kriminalitätsrate steigt zwar, liegt aber für deutsche Großstädter wie mich, die seit ihrer Jugend täglich die Drogen- und Rotlichtzentren Bremens und Hamburgs erleben mussten, unterhalb der physiologischen Wahrnehmungsschwelle. Die Paranoia steigt auch, weil fast jeder Mord tagelang und landesweit in den Fernsehsendern ausgewalzt wird.
Nun fällt es immer leicht, sich lustig zu machen. Aber kann man Japans Eltern ein klein wenig Paranoia verdenken? Eigentlich nicht, denn sie muten ihren Kleinsten weit mehr zu als Eltern in Deutschland. Jeden morgen reisen Heerscharen von schuluniformierten Grundschülern und Grundschülerinnen oft eine halbe Stunde und länger von ihren Schlafstätten zu ihren Schulen und nachmittags wieder zurück. Und Japans U- und S-Bahnen sind in der morgendlichen Stoßzeit mit ihren vollgestopften Wagen kein Hort der Unschuld wie Mittel- und Oberschülerinnen häufig erleben müssen. Angrabschen gehört offenbar zum Alltag. Nicht umsonst wurden für die Rushhour Frauenwagen eingeführt. Dank aktueller Hightech können Mamas und Papas ihr schlechtes Gewissen wenigstens ein bisschen beruhigen.
Ob die Handys etwas bringen, ist bisher unbekannt. Allerings gibt es offenbar unvorhergesehene Nebenwirkungen, die zwar nicht die körperliche, doch seelische Unversehrtheit des Nachwuchs gefährden. In Deutschland haben nach der JIM-Studie (Jugend, Information, (Multi-)Media) des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest 29 Prozent der 12- bis 19-jährigen schon mal beobachtet, wie eine Schlägerei zum späteren Amusement mit dem Handy gefilmt wurde - "Happy Slapping" nennt man das.
Davon hört man in Japan derzeit noch wenig. Dafür haben die Kinder-Handys aber richtiges Internet und nicht die hiesige Dumpfversion WAP, sonst könnten sie ja nicht ihren Eltern mailen. SMS gibt es in Japan nicht. Dadurch öffnet sich jedem neugierigen Dreikäsehoch natürlich die weite Welt von Porno, Gewalt und anderen Exzessen im WWW. Das Kommunikationsministerium hat die Chefs der Handynetzbetreiber daher aufgefordert, alle Geräte für Kinder mit Filtern zu versehen, die den Kontakt zu jugendgefährdenden Website blocken. Dating-Sites zum Beispiel, auf denen sich schon mal minderjährige Mädchen mit Angestellten verabreden.
Bisher nutzen immerhin schon ein Drittel aller ABC-Schützen von der Grund- bis zur Oberschule derlei blockierbare Handys. Das ist immerhin offenbar mehr als in Deutschland. Nach der Schrift "Handy ohne Risiko" des Bundesfamilienministeriums bot zumindest Anfang 2007 in Deutschland noch kein Netzbetreiber einen Blocker von WWW-Inhalten an. So galt bisher: Entweder sperren die Eltern alles oder nichts. Eine harte Entscheidung, denn damit entscheidet man ja vielleicht über die Cliquen-Zugehörigkeit des Nachwuchses. Wer will schon ein Krüppel-Handy haben. Japanische Eltern haben es an diesem Punkt einfacher, dem Eingriff in die Verkehrsfreiheit im Internet sei dank. (wst)