SCHNELLER BRĂśTER INTERNET
Rumor und Reaktor – unkontrollierbare Kommunikationsdruckwellen breiten sich plötzlich mit Internetgeschwindigkeit aus und lassen die gute Laune von Atomenergie-Verfechtern verfliegen.
- Peter Glaser
DIE STIMMUNG schien günstig wie seit Jahren nicht mehr für die Atomindustrie. Der Ölpreis explodiert; manche fürchten bereits, die Fördermenge könne an Grenzen gestoßen sein. Die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO teilt mit, dass 40 Schwellenländer ihr Interesse an der Kernenergie deutlich gemacht haben. Die deutsche Kernkraft-Branche strotze vor Selbstbewusstsein, so Christopher Schrader noch vor wenigen Tagen in der Süddeutschen Zeitung. Deutschland habe zwar den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, aber viele andere Länder würden der Reaktortechnik zu einer Renaissance verhelfen.
Die Sowjetunion und Slowenien werden möglicherweise nicht dazugehören. Am 20. Mai 2008 hatten sich in russischen Blogs erste Gerüchte verbreitet, dass angeblich wegen eines Lecks in einem Atomkraftwerk die 81 Kilometer westlich von St. Petersburg gelegene “Atomstadt” Sosnovy Bor evakuiert werden solle. In Sosnovy Bor ist das älteste AKW vom Tschernobyl-Typ am Netz. Die Betriebszeit der Reaktoren Leningrad-1 bis 4 wäre nach rund drei Jahrzehnten inzwischen abgelaufen, aber dem ökonomischen Pragmatismus russischer Politiker zu danken wurden alle vier Reaktoren in den neunziger Jahren, unter anderem von Siemens und E.ON, modernisiert.
“Russland ist nicht die UdSSR”, hielt Sergey Komarov, Regionaldirektor der Föderale russischen Atomenergieagentur Rosatom, der aufkeimenden Panikstimmung entgegen – eine Anspielung auf den schweren Reaktorunfall in Sosnovy Bor im Dezember 1975, bei dem über einen Monat lang Radioaktivität in den finnischen Meerbusen gelangt war. Der GAU und seine Folgen waren erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt geworden.
Anders als zu Sowjetzeiten hat heute tatsächlich jeder in Russland die Möglichkeit, über Websites die Echtzeit-Strahlungsmeßwerte rund um russische Nukleareinrichtungen zu inspizieren. Als beunruhigte Bürger die aktuellen Meßwerte sehen wollten, war die Website des Meßnetzes ASKRO allerdings nicht mehr erreichbar und die Gerüchte kochten erst richtig hoch. Man solle Jodpräparate zu sich nehmen, war im Netz zu lesen. Ähnliche Gerüchte im letzten Jahr, die von einem vorgeblichen Problem im Atomkraftwerk Volgodonsk-1 sprachen, hatten dazu geführt, dass einige Menschen in der Absicht, sich gegen Radioaktivität zu schützen, durch Überdosierung Jodvergiftungen erlitten. Es handle sich, so Komarov weiter, bei den Gerüchten um “eine weitere dumme Provokation”. Und wenn jemand sich mit Jod vergiften wolle, dann sei das sein eigenes Problem.
Am 22. Mai äußerte sich Mikhail Grishankov, der Vizevorsitzende des Sicherheitsrats der Staatsduma, zu dem Reaktor-Rumor: Es handle sich “um eine der Methoden von Informationskriegsführung.” Er werte die Gerüchte als Versuche, das russische Atomenergieprogramm zu diskreditieren. Tags darauf zitierte die russische Nachrichtenagentur RIA Novosti einen ungenannten Rosatom-Sprecher, demzufolge die Website mit den Meßwerten – einschließlich der Website des Kraftwerks und von Rosatom – Opfer einer von Hackern koordinierten sogenannten Denial-of-service-Attacke (DoS) geworden sei. Dabei wird ein Server gezielt mit einer solchen Flut von Anfragen bombardiert, dass das System eine Weile für den normalen Zugriff außer Gefecht gesetzt ist.
Vier Tage nach den ersten Gerüchten über die Leningrad-Reaktoren sah sich Rosatom genötigt, einer neuen Welle vermeintlicher Katastrophenberichte entgegenzutreten, die sich diesmal auf das AKW Ignalina in Litauen bezogen. Es handle sich, wie bei dem Atomkraftwerk in Sosnovy Bor, um Falschmeldungen, die der “Blogosphäre” entstammten und zu einer Desinformationskampagne gehörten, für die neben Blogs auch SMS, Instant Messaging und “Social Engineering” benutzt würden - bevorzugt das Überlisten von Gesprächspartnern am Telefon, um ihnen eigentlich vertrauliche oder geheime Daten aus der Nase zu ziehen.
Eine solche konzertierte Hack-Aktion hinterläßt gewöhnlich erkennbare Muster und Spuren im technologischen Netznervensystem der angegriffenen Systeme. Davon aber war nichts zu sehen, auch kein Anzeichen von Hackern, die dahinterstehen. IT-Experten wie Don Jackson von der US-Firma SecureWorks sehen keinerlei Hinweis auf einen geplanten Cyber-Angriff. Ein Mitarbeiter eines renommierten russischen Unternehmens für Computersicherheit hat eine plausible alternative Erklärung. Die Reaktoren von Sosnovy Bor haben bereits eine Historie von Störfällen. Wenige Tage vor dem Aufkommen der Gerüchte Anfang Mai war es im Reaktor Leningrad-3 zu einer Notabschaltung gekommen. Die Dosimeter des ASKRO-Meßnetzes registrierten aber keine erhöhte Radioaktivität in der Umgebung. Die Notabschaltung in Kombination mit der kritischen Vorgeschichte der Anlage und den sprießenden Gerüchten über freigesetzte Radioaktivität veranlaßten wesentlich mehr Menschen als sonst, auf der ASKRO-Website nach den Meßwerten zu sehen – ein solcher Ansturm kommt einer unkoordinierten DoS-Attacke gleich.
Wer auch immer die Website lahmgelegt hat, er steht nun im Verdacht, das Vorwärtsstreben der russischen Atomindustrie sabotieren zu wollen. Gerüchteweise - diesmal von behördlicher Seite - ist zu vernehmen, es handle sich um Atomkraftgegner oder Konkurrenten aus der Atomindustrie, die sich den für 2015 geplanten Bau eines neuen Kernkraftwerks in der Gegend von Kaliningrad sichern möchten.
AM SAMSTAG, den 26. April 1986 ereignete sich das Reaktorunglück in Tschernobyl. Während die Bundesregierung noch behauptete, es sei alles ganz harmlos und weit weg, war in verschiedenen wissenschaftlichen Instituten bereits ganz erhebliche Radioaktivität gemessen worden. Die Berichterstattung in den Medien war chaotisch. Peter Hänelt, der damals eine der frühen Computermailboxen betrieb, skizzierte die Situation in München: "Da sind Wissenschaftler ... herumgeirrt, hilflos, mit Gewissensproblemen, weil sie Meßergebnisse der Strahlung hatten, die herauszugeben von vorgesetzter Stelle verboten war. ... Da haben wir Samstag die Daten ins GeoNet [ein kleines, alternatives Computernetz] eingespielt, haben über Greenpeace Resonanz bekommen, die dann über ihre Kanäle kräftig Gas gegeben haben. Ab Sonntag nachmittag ging’s richtig rund in den Medien draußen."
Damals, in der Vor-Internetzeit, entstand bereits die Idee zu einem Netz, an das jeder rankam und das nicht zensiert werden konnte. Dazu war erst einmal ein Programm nötig, durch das sich die vielen einzelnen Computer, die bereits per Modem erreichbar waren, miteinander austauschen konnten. Hartmut “Hacko” Schröder, ein Mitglied des Chaos Computer Clubs, begann die Arbeit, die Programmierer Felix Heine und Wolfgang Mexner entwickelten daraus ein netzwerkfähiges Mailboxprogramm, das sie nach dem vielköpfigen Höllenhund der griechischen Sage “Zerberus” nannten. Eingedenk des Tschernobyl-Informationsdesasters war das Netz so programmiert, das sich einmal verschickte Daten nicht mehr zurückholen - oder zensieren - ließen.
20 Jahre später. Was hat die hochtechnisierte Welt aus der Katastrophe von Großtechnik und Kommunikation gelernt? Ein transparentes Informationssystem wie das ASKRO-Meßnetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Das Kontrollnetz wird allerdings von der selben Organisation betrieben, die eigentlich kontrolliert werden soll. Der nuklearen Großtechnik gegenüber stehen nach wie vor besorgte Bürger hier und Technokraten dort anderen Seite, und statt der vermeintlichen Segnungen des Informationszeitalters, dem Wissen und der Vernunft der Menschheit, in Sekundenschnelle von Computerbildschirmen herabbeschworen, wogen diffuse Ängste, Gerüchte und Hysterie auf der einen und Verschwörngstheorien nebst Propagandanebel auf der anderen Seite. Wenn die Menschen nicht bereit sind, ohne Maschinenhilfe vernünftig zu werden, ein bißchen nur – die Maschinen werden ihnen nicht dabei helfen, nicht als Datenwundergeräte und auch nicht als Atomangstapparate.
HABEN DIE MENSCHEN etwas gelernt, ein bißchen nur? Nach einer Havarie im Hauptkühlsystem des slowenischen Atomkraftwerks Krsko löste die EU-Kommission am Mittwoch Abend europaweiten Alarm aus. Der Vorfall ereignete sich im Primärkreislauf des AKW, im Containment, dort sei Kühlflüssigkeit ausgetreten. Maja Kocijancic, Sprecherin der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft, hob hervor, es bestehe keine Gefahr für Menschen oder die Umwelt. Das Atomkraftwerk “werde derzeit in einen sicheren abgeschalteten Zustand gebracht”, so die Verlautbarung der EU-Kommission. “Die Lage ist unter Kontrolle”, unterstrich Andrej Stritar, Direktor der slowenischen Atomsicherheitsbehörde, und zeigte sich gelinde erstaunt, das europaweit Atomalarm ausgelöst worden war. Die Behörden in Ljubljana stuften den Vorfall selbst als "eher gering" ein. Der Umweltorganisation Greenpeace zufolge ist eine europaweite Warnung "sehr ungewöhnlich". In den ARD-Tagesthemen betonte der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Sigmar Gabriel: “Es gibt keine Gefahr, jedenfalls nicht für die deutsche Bevölkerung.”
Krsko liegt etwa 70 Kilometer von der Grenze zum Nachbarland Österreich und dem Bundesland Steiermark entfernt. Es ist das bisher einzige Kernkraftwerk in Slowenien und deckt etwa zwei Drittel des heimischen Strombedarfs. Ein weiterer Reaktor in Krsko ist geplant, mit dem Bau soll 2013 begonnen werden. Der Ausstieg aus der Atomenergie war eine Bedingung für den EU-Beitritt Sloweniens gewesen, das Land hatte seine Energiepolitik dann aber doch geändert. Noch am Abend räumten die slowenischen Behörden einen Fehler bei der Benachrichtigung des österreichischen Strahlenschutzes ein. Der Zwischenfall sei zunächst als Übung gemeldet worden, es sei aus Versehen ein falsches Formular benutzt worden, hieß es aus der slowenischen Atomschutzbehörde. Der österreichische Umweltminister Josef Pröll erklärte, das Vertrauen in das slowenische Alarmsystem sei durch den Vorfall „massiv infrage gestellt“.
Dem steirischen Strahlenschutzbeauftragten zufolge kann Österreich jederzeit in das slowenische Frühwarnsystem Einsicht nehmen. Würde erhöhte Radioaktivität gemessen werden, könne man das online ablesen, sagt Strahlenschutzexperte Kurt Fink. Der Zwischenfall selbst sei laut Fink “nicht unbedingt außergewöhnlich”. Es komme in Europa häufiger vor, dass Kühlwasser aus einem Reaktor austrete, eine Leitung breche hin und wieder. (wst)