Hui, aber pfui

Sommerzeit, Reisezeit, Shinkansen-Zeit. Superschnell und superpĂĽnktlich transportieren Japans SchnellzĂĽge die Menschenmassen. Bequem allerdings nicht.

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Von
  • Martin Kölling

Bewohner der japanischen Eilande, einheimische wie zugewanderte, protzen gerne mit Japans Schnellzugstolz, dem Shinkansen. In Spitzenzeiten im Sechminutentakt zwischen Tokio und Osaka! "Wow!" Bis zu Tempo 300 Spitze! "Wow." Und fast immer pünktlich, es sei denn bei Erdbeben, sintflutartigen Regenfällen und Taifunen! "Woooow." Und besonders von zugverspätungsleidgeplagten Deutschen und Engländern viel gelobt: "Zwölf Sekunden betrug die Verspätung zuletzt im Schnitt!" Aber was Shinkansen-Fans gerne verschweigen: Es ist nicht bequem, sondern nackter Menschenmassentransport.

Fünf Sitze pro Reihe sind ins Normalabteil gezwängt – mit kaum mehr seitlichem Platz als in einer Turboprop-Maschine von Amsterdam nach Bremen. In der Entsprechung der ersten Klasse namens "Green Car" (erkennbar am grünen Kleeblatt am Wagon) sind es vier Plätze statt jener drei beim deutschen ICE der dritten Generation. Erst ab 2011 soll die Zahl im "Super Green Car" auf der von Tokio nach Norden verlaufenden Tohoku-Shinkansen-Linie auf drei reduziert werden. Immerhin gibt es in der Holzklasse mit 104 Zentimetern wenigstens eine ordentliche Beinfreiheit und auch am Kopf keine Beklemmungsgefühle. Doch dafür sind die Sitze niedriger als beim ICE, weil die anscheinend für die älteren und damit oft noch klein gewachsenen Generationen der Japaner entworfen wurden.

Komfort geht anders: Steckdosen an den Sitzen sucht man in den meisten Zügen ebenso vergeblich, wie Handy-Verstärker oder gar drahtloses Internet, wie es die Deutsche Bahn auf einigen Strecken anbietet. Das soll erst im kommenden Jahr auf der Strecke zwischen Tokio und Osaka in Zügen der neuesten Baureihe N700 eingeführt werden. Und das Wagoninnere ist in ungastlichem Plastik gehalten anstatt mit edel anmutenden Teppichen ausgeschlagen. Pures Effizienzdenken und nicht Sitz- und Reisekomfort leiteten da die Designer. Es soll vor allen Dingen schnell zu reinigen sein, das Abteil.

Denn am Endbahnhof wartet am Bahnsteig schon die Reinigungskolonne am Gleis, wenn der Zug einrollt. Kaum hat der Zug seine Fracht ausgespukt, fegt sie durch die Abteile. KrĂĽmel aus der Auslegeware saugen wĂĽrde da nur bremsen. In den moderneren Shinkansen drehen sich die Sitze sogar automatisch um 180 Grad, damit jeder Passagier in Fahrtrichtung schauen kann. Denn gleich saust der Zug wieder zurĂĽck.

Japans Bahn kann sich den Gütertransport-ähnlichen Reiseverkehr leisten, denn sie braucht anders als die Bahn in Deutschland keine Konkurrenz zu fürchten. Das Flugzeug ist nicht bequemer und auf den Hauptstrecken auch nicht schneller. Und das Autofahren ist dank dem Tempolimit von 100 Stundenkilometern und den alle paar Ausfahrten fälligen Autobahngebühren nicht nur extrem langsam, sondern auch extrem teuer.

Auch auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen: Immer wenn ich nach Deutschland komme, freue ich mich auf eine Fahrt im ICE. Ich lasse mich in die Sessel plumpsen und denke mir: "So schön kann Reisen sein!" Bei meinem letzten Deutschland-Aufenthalt zu Weihnachten habe ich auch weniger über Unpünktlichkeit geflucht. Erst wenn ich dann im Winter doch mal wieder am Gleis friere und meinen Anschluss zu verpassen drohe, erzähle ich gerne von den superpünktlichen Zügen in Japan.

Wenn ich nur zehn bis 15 Minuten warten muss oder meinen Anschluss doch noch erreichen kann, lasse ich der Bahn im Nachsatz vielleicht sogar noch ein bisschen Gerechtigkeit widerfahren. Dann erzähle ich, dass es in Japan kein wirkliches Netz gibt wie in Deutschland, in dem sich Verspätungen schnell hochschaukeln können und sogar Züge aufeinander warten. In Japan gibt es nur Streckenverbindungen, die auf Sondergleisen und oft über eigene Bahnhöfe zwischen zwei Punkten hin und her rasen. Da wartet in aller Regel kein Zug auf Anschluss. Womit wir wieder am Anfang sind: Das macht einem aber auch meist nicht so viel aus. Denn oft fährt der nächste Zug dank der in vielen Fällen auch im Nah- und Mittelstreckenverkehr hohen Taktrate schon in ein paar Minuten. (wst)