Der Ohrgasmus
Japan ist nicht nur Herkunftsort edler Hifi-Anlagen und digitaler Musikplayer. Es bietet seit Jahrhunderten einen anderen hochfidelen wie fĂĽr Westler merkwĂĽrdigen Ohrenschmaus: den Mimikaki.
- Martin Kölling
Mein liebstes Mitbringsel aus Japan ist ein Mimikaki, zu Deutsch: ein Ohrenkratzer. Ich wähle in der Regel das Urmodell des ostasiatischen Gehörreinigers, am besten handgefertigt: ein acht bis 20 Zentimeter langes, dünnes Stäbchen aus Holz oder Bambus, vorne mit einem kleinen Löffelchen versehen,den Stäbchenrücken gebogen, den Bauch flach, damit die Finger immer wissen, wohin das Löffelchen zeigt. Die erste Reaktion ist meist ein entgeistertes Gesicht und der Ausruf: "Igitt nee. Sowas lass' ich nicht in meine Ohren." Aber viele Menschen packt dann doch die Neugier. Und nach ein paar Tagen erzählen sie mir mit noch immer verzücktem Gesicht von ihren ersten Selbstversuchen. Und ich muss ihnen dann erzählen, dass der Genuss viel höher ist, wenn eine andere Person einem damit im Ohr puhlt. Auch Kitzeln, selbst betrieben, ist nur der halbe Spaß.
Welchen Ohrgasmus ein schlicht gestrickter Homo Sapiens durchlebt, haben die Macher der Science Fiction-Serie Star Trek in etwas übersteigerter Form anhand der großohrigen wie gewinnsüchtigen Ferengi verdeutlicht. Bei den Ferengi sind die Ohren eine der wichtigsten erogenen Zonen, die sie sich gerne mit etwas überdimensionierten, vibratorähnlichen Mimikaki stimulieren lassen.
Ich bin mir sicher, die Star-Trek-Schreiber haben dieses Wesensmerkmal der Aliens schlicht aus Japan abgekupfert. Denn hierzulande sind Mimikaki seit Jahrhunderten Kulturgut. Das "hiza makura mimikaki" (wörtlich übersetzt: "Kniekissen-Ohrenkratzen") beispielsweise ist eines der Symbole perfekten Ehelebens: Die Frau setzt sich auf ihre Unterschenkel, nimmt den Kopf ihrem Mannes in den Schoß und reinigt ihm hingebungsvoll mit dem Holzlöffelchen den Gehörgang. Der Ohrenschmalz wird in einem Papiertuch abgestrichen. Man darf den Erfolg der Arbeit gerne später zeigen. Dieser Genuss wird den Japanern von klein auf gewährt. Natürlich darf in Zeiten der Gleichberechtigung auch der Mann Ohren kratzend seine Liebe bezeugen.
Inzwischen ist eine weit verzweigte Kultur des Mimikaki entstanden. Es gibt zahllose Modellvarianten aus Plastik und Metall, Hightech-Kratzer, bei denen metallische Spiralen die Löffelchen ersetzen, LEDs den Gehörgang ausleuchten oder Minikameras filmen. Außerdem gibt es Heerscharen an Mimikaki-Sammlern, denn oft werden statt der handelsüblichen Wattebüschel Figürchen auf die Enden gesteckt wie sie zum Beispiel hier in einem der "Mimikaki-Museen" dargestellt werden.
Und natürlich gibt es richtige Mimikaki-Läden, in denen Mann und Frau sich professionell die Ohren massieren und reinigen lassen kann. Wie das genau geht ist in diesem kurzen Video oder in einem ausführlicheren namens "Ryo's Eargasm" zu bewundern.
Höre ich da jemanden "Die spinnen, die Japaner!" sagen? Besonders bei der Idee des Fremdkratzenlassens rollen sich den meisten Westlern, mit denen ich gesprochen habe, erst einmal die Ohren auf. Die Idee erscheint vielen wesentlich inakzeptabler als ein One-Night-Stand. Warum dieses Tabu im Westen? Denn eigentlich ist Ohrenkratzen dem Abendland nicht fremd. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Urgroßmutter uns Kindern mit einer Haarnadel die Ohren gereinigt hat. Es gibt auch in Apotheken auch heute noch Ohrenkratzer zu kaufen – in Form eines runden, kalten Metallbügels, der allerdings nicht wirklich wegen seiner zu abgerundeten Form kratzt. Doch aus irgendwelchen Gründen haben sich die noch stumpferen und lustfeindlicheren Ein-Weg-Wattestäbchen durchgesetzt.
Ein Grund dafür ist vielleicht die Angst vor Verletzungen. Und wirklich ist die Wahl des richtigen Mimikaki eine Kunst für sich. Das Löffelchen darf nicht zu groß für das jeweilige Ohr sein, sein Winkel nicht zu stark, sonst schmerzt es. Zu flach darf das Löffelchen auch nicht sein, sonst ist das Ergebnis auch flach. Ich persönlich halte die Mimikaki für ohrenfreundlicher als Wattestäbchen, bei denen ich das Gefühl habe, das Ohrenschmalz im Ohr festzustopfen. Aber ich bin kein Arzt. Daher möchte ich diesen Text heute mit einer Frage beenden: Was ist aus ärztlicher Sicht besser, ein Wattestab oder ein Mimikaki? (wst)