42 oder: Die Pyramide von Genf
Kann uns der LHC wirklich noch überraschen? Werden es Fragen oder Antworten sein? Und können wir damit etwas anfangen? Eine Nachbetrachtung zum Start des Mega-Teilchenbeschleunigers.
- Niels Boeing
Für Physiker war der Start des Teilchenbeschleunigers LHC bei Genf vor zwei Wochen ein wahres Fest. Nicht nur stand ihre Disziplin endlich wieder im Rampenlicht, das ihr in den letzten 30 Jahren vor allem die Biologie gestohlen hat. Sie hoffen auch, dass die größte Versuchsanlage der Geschichte ein neues Zeitalter der Physik einläutet. Da kann man auch schon mal pathetisch werden: „Er ist die Antwort unserer Zivilisation auf die ägyptischen Pyramiden. Aber besser: Er ist ein Monument der Neugier, nicht des Aberglaubens, und seine Dimensionen spiegeln die Größe der Fragen wider, die er angeht, nicht die Eitelkeit seiner Betreiber“, hat der US-Physiker Frank Wilczek kürzlich geschrieben.
In Wilczeks Beschreibung steckt durchaus ein wahrer Kern, aber anders, als er es im Sinn gehabt haben dĂĽrfte.
Dass die „Größe der Fragen“ mit der Größe der Anlage, in deren Detektoren allein 45.000 Tonnen Material verbaut sind, korrespondiert, ist natürlich nicht der Hybris der Forschergemeinde geschuldet. Will die Physik die Stichhaltigkeit ihrer derzeit fortgeschrittensten Theorien experimentell überprüfen, muss sie jene Teilchen hervorbringen, deren Existenz diese Theorien postulieren. Dazu sind Energiemengen nötig, die in bisherigen Teilchenbeschleunigern nicht erzeugt werden konnten.
In der Sache fällt der LHC damit auch nicht aus der Tradition der modernen Physik: Sie kann Antworten nur finden, indem sie diese mit Hilfe technischer Apparate aus der Natur hervorzwingt. Frühe Theoretiker wie Kepler oder Newton mögen noch Naturbeobachter gewesen sein, die das Beobachtete in der Sprache der Mathematik formuliert und daraus neue Erkenntnisse destilliert haben. Wichtiger ist heute aber die umgekehrte Reihenfolge: Am Anfang steht – aufbauend auf älteren Erkenntnissen – ein mathematisches Konstrukt, aus dem sich neue Sachverhalte erschließen, die zu beobachten sein müssten. Die Aufgabe der Experimentalphysiker ist dann, den passenden technischen Apparat zu entwickeln, der die Beobachtung ermöglicht. Anders gesagt: Während der Theoretiker früherer Tage vor allem Antworten produzierte, wirft sein zeitgenössisches Gegenstück erst einmal Fragen an die Natur auf.
Mit diesem Arbeitsmodell ist die Physik im 20. Jahrhundert ungeheuer erfolgreich darin gewesen, die Grundbausteine und -strukturen der Welt aufzuspüren. Ob es sich um die Krümmung des Raumes in der Relativitätstheorie, den gut bevölkerten "Teilchenzoo" in der Quantenphysik oder die aus beiden Theoriegebäuden abgeleitete Antimaterie handelte – mit ausgeklügelten Apparaten fanden Physiker für vieles eine Bestätigung. Aber es sind nicht nur Lücken geblieben wie das berüchtigte Higgs-Boson, jenes „Gottesteilchen“, das der LHC endlich finden soll, weil sonst das Standardmodell der Teilchenphysik unvollständig bliebe. Auch passen bis heute Relativitätstheorie und Quantenphysik nicht nahtlos zusammen.
Seit über 70 Jahren suchen Physiker schon nach der großen finalen Theorie, die beide vereint. Die derzeit heißesten Kandidaten, allesamt Varianten der so genannten String-Theorie, haben allerdings einen Makel: Aus ihnen lassen sich bislang keine Fragen ableiten, die sich im Rahmen des technisch Möglichen irgendwie experimentell angehen ließen. Jedenfalls nicht, so lange die Menschheit die Fähigkeiten einer K1-Zilivisation, die Energiemengen planetaren Ausmaßes bewältigen kann, entwickelt, wie der US-Physiker Michio Kaku meint. Damit aber unterscheiden sie sich bis auf ihr mathematisches Gewand kaum noch von klassischer Metaphysik, also der Spekulation „nach der Physik“.
Der Wissenschaftsjournalist John Horgan hat 1996 in seinem Buch „The End of Science“ die provozierende These aufgestellt, dass gerade die Physik in das Stadium der „ironischen Wissenschaft“ eingetreten sei. „Ironische Wissenschaft“, schreibt Horgan, „ähnelt der Literaturkritik, indem sie verschiedene Standpunkte, Ansichten anbietet, die im besten Fall interessant sind und weitere Kommentare provozieren. Aber sie kommen der Wahrheit nicht mehr näher.“
Horgan ist in der Fachwelt in guter Gesellschaft. Auch viele Physiker bezweifeln die Möglichkeit, dass „die Antwort“ zu finden ist. Kein Geringerer als Stephen Hawking äußerte 2002 die Vermutung, eine vereinheitlichende Weltformel könnte unmöglich sein. Er berief sich dabei auf Kurt Gödel: Der hatte in den dreißiger Jahren gezeigt, dass in einem mathematischen System aus Axiomen immer unauflösbare Widersprüche bleiben – und physikalische Theorien sind mathematische Axiomensysteme.
Und auch der Conga-spielende Richard Feynman, Schöpfer der Quantenelektrodynamik, war pessimistisch: Mit der modernen Physik sei es „wie mit der Entdeckung von Amerika - man kann sie nur einmal machen. Das Zeitalter, in dem wir leben, ist eines, in dem wir die fundamentalen Naturgesetze entdecken, und es wird sich nicht wiederholen.“
Selbst wenn im LHC etwas ganz Neues entdeckt würden, dürfte es nur wenige Auswirkungen auf die technische Zivilisation haben, für die die gut bestätigte Quantenmechanik im Großen und Ganzen genügt. Das Denken der Menschen würden sie ohnehin kaum berühren: Die meisten Zeitgenossen kommen nach wie vor prima mit einem Newton’schen Weltbild aus, das von den theoretischen Durchbrüchen des 20. Jahrhunderts bestenfalls angekratzt ist.
Schwerer wiegt aber, dass der LHC womöglich Antworten auf Fragen liefern könnte, die für uns gar nicht mehr so relevant sind. Denn die Teilchenphysik steht noch in einer reduktionistischen Tradition, die glaubte, die Welt aus ihren Grundbausteinen hinreichend erklären zu können – also von unten nach oben.
Die Wissenschaft der vergangenen Jahrzehnte hat jedoch den Fokus neu justiert: hin zur Untersuchung des Phänomens der Komplexität, die in so unterschiedlichen Gegenständen wie Zellen, Ökosystemen, Klima oder Gehirn auftritt. Solche komplexen Strukturen lösen sich auf der Ebene der Teilchen und Kraftfelder in Nichts auf. Für die künftige Entwicklung der heutigen Zivilisation ist ihr Verständnis aber von großer, vielleicht sogar entscheidender Bedeutung.
Hier bekommt Wilczeks Analogie des LHC mit den ägyptischen Pyramiden ihren wirklichen Sinn. Die waren zweifellos ein Höhepunkt der damaligen Baukunst, aber sie markierten auch einen Endpunkt der Entwicklung. Nach der Cheops-Pyramide ging es nicht mehr höher hinaus. So könnte auch der LHC der letzte Teilchenbeschleuniger dieser Größe sein, weil die Wissenschaft sich auf ganz neue Territorien begibt.
Es sei denn, er spuckt "42" aus. Dann sollten wir uns ernsthaft Gedanken machen – und Douglas Adams posthum noch für den Nobelpreis vorschlagen. (wst)