Virtuelle Gewalt vor Gericht

In Japan wurde eine Frau wegen virtuellen "Mordes" an ihrem virtuellen "Ex-Ehemann" verhaftet. Der Fall wirft eine größere Frage auf: Wie behandeln wir die Taten und Untaten der Online-Verlängerungen realer Menschen?

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Von
  • Martin Kölling

Vorige Woche machte die erste Verhaftung in einem virtuellen Fall von "Mord" weltweit Schlagzeilen. Der Fall ist bizarr: Die 43-jährige Klavierlehrerin Mayumi Tomari trifft im populären japanischen Online-Spiel "Maple Story" ihren Traummann und heiratet ihn dort rein digital. Doch dann lässt sich ihr zehn Jahre jüngerer "Ehemann" aus dem nordjapanischen Sapporo plötzlich von ihr scheiden. Aus Rache löscht sie ihn aus – virtuell versteht sich. Ohne Spuren eines gewaltsamen Einbruchs zu hinterlassen schleicht sie sich in sein Online-Konto und löscht sein Benutzerprofil und damit seine Existenz in der Maple Story-Welt. "Ich fand mich plötzlich geschieden, ohne ein Wort der Warnung", gestand die Verschmähte ihre Tat, "ich war so wütend".

Ok, mag man denken, eine normale Rache, nicht wirklich viel passiert. Doch zur Schlagzeile wurde der Fall, weil Japans Strafverfolger es anders sahen und Frau Tomari nun für die aus ihrer Wohnung im südjapanischen Miyazaki verübte virtuelle Tat verhaften ließen und in ein reales Gefängnis im 1000 Kilometer entfernten Sapporo steckten. Der Staatsanwalt will ihr den Prozess machen – nicht wegen Mordes zwar, aber immerhin für den widerrechtlichen Zugang zu einen Internetkonto sowie Datenmanipulation. Auch dafür kann man in Japan bis zu fünf Jahre hinter Gitter kommen.

So skurril Tomaris virtueller "Mord" auf den ersten Blick erscheint, so sehr wirft er doch ein Schlaglicht auf ein reales wie bislang von der Menschheit philosophisch noch ungelöstes Problem: Wie behandelt die Gesellschaft Verbrechen im virtuellen Raum oder an virtuellem Besitz? Ökonomisch die größte Brisanz hat wahrscheinlich das Urheberrechtsproblem in der Film- und Musikindustrie, wo der Staat die Herrschaft des bestehenden Rechts mit allerdings bisher wenig Erfolg durchzusetzen versucht. Aber da ist der Hoheitsanspruch wenigstens noch einigermaßen klar und den illegalen Downloadern bewusst, dass sie etwas Widerrechtliches tun. Schwieriger sieht es mit Gewalttaten und Verbrechen in der virtuellen Welten aus. Wo ziehen wir die moralischen und juristischen Grenzen dort?

Diese Frage beschäftigt inzwischen bereits Juristen und den Klerus. Orin S. Kerr von der juristischen Fakultät der George Washington Universität stellte in diesem Jahr in seinem Aufsatz "Criminal Law in Virtual Worlds" fest: "Existing law will not recognize virtual murder, virtual threats, or virtual theft. While these 'offenses' may appear to users as the cyber-version of traditional crimes, existing law requires proof of physical elements rather than virtual analogies."

Doch Orr glaubt, dass die Ausdehnung des Rechts auf die virtuellen Welten nicht notwendig ist: "Legislatures should not enact new criminal laws to account for the new social harms that may occur in virtual worlds. Virtual worlds at bottom are computer games, and games are artificial structures better regulated by game administrators than federal or state governments. The best punishment for a violation of a game comes from the game itself. ... Online virtual worlds may seem real to some users, but unlike real life, they are mediated by game administrators who can take action with consequences internal to the game. Internal virtual harms should trigger internal virtual remedies. It is only when harms go outside the game that the criminal law should be potentially available to remedy wrongs not redressable elsewhere."

Und die Glaubensgelehrten der Wisconsin Evangelical Lutheran Synod beruhigen einen Sünder, der sich nach Mord und Diebstahl im Videospiel um sein Seelenheil sorgt: "In der Regel ist es keine Sünde, jemandem in einem Videospiel das Leben zu nehmen – ähnlich wie beim Schauspiel oder anderen Fantasie-Situationen. Wenn jedoch das, was im Spiel getan wird, von Hass und Missachtung des menschlichen Lebens ausgeht, ist es eine Sünde in den Augen Gottes. Wenn diese Aktivität nur zur puren Unterhaltung dient und kein Ausdruck von Lieblosigkeit gegenüber deinen Mitmenschen ist, dann ist es kein Mord."

Ich halte beide Argumentationen für eher gefährlich. Fangen wir mit der Sünde an. Die Einteilung nach dem Motiv finde ich falsch. Sinnvoller ist meines Erachtens folgende Unterteilung: Morde und andere Untaten in Videospielen etc. sind per se kein Verbrechen und zu behandeln wie Phantasien oder Bücher. Denn in ihnen kommt kein anderer Mensch zu schaden. Anders sieht es allerdings mit Online-Welten wie "Second Life" oder Maple Story aus, wo reale Menschen virtuell kommunizieren. Diese virtuellen Welten sind nur eine Verlängerung der "realen" Welt. Daher besteht für mich dort im Gegensatz zum Juristen Orr schlicht der Anspruch, die gesellschaftliche Moral und bestehendes Recht anzuwenden – sei es auf geistiges Eigentum oder andere Akte. Das Problem ist bisher die Strafverfolgung, aber das sollte am Grundsatz nichts ändern. Die virtuellen Welten sind für mich schlicht kein rechtsfreier Raum.

Eine digitale Beleidigung oder Verleumdung tut genauso weh wie eine analoge wenn nicht sogar mehr, da sie gewöhnlich eine größere Öffentlichkeit erreicht. Und wenn die Betroffenen sich an die Justiz wenden, sollte die genauso reagieren wie im analogen Leben. Genauso ist es mit Diebstahl elektronischer Güter. Denn für die betroffenen Menschen kann der genauso real sein wie der Diebstahl eines real existierenden Gutes. Ein Chinese hat im Jahr 2005 in Shanghai den Dieb seines digitalen Schwerts ganz real umgebracht.

Und wie sieht es nun mit virtuellen Mord aus? Der bleibt zum Glück virtuell, und das Opfer erleidet nur seelischen oder ökonomischen Schaden. Man könnte Täter für virtuellen Mord daher vielleicht wie für eine Sachbeschädigung belangen. (wst)