The Big Change
Alle reden vom Wandel. Aber was könnte in diesem Jahrhundert wirklich alles verändern? 151 Köpfe aus Wissenschaft, Technik und Kultur haben Antworten versucht.
- Niels Boeing
"Change" ist in aller Munde. Wirtschaftskrise und Klimawandel machen klar: Es muss sich etwas ändern. Obama ist mit dem Versprechen angetreten: Es wird sich etwas ändern. Das Online-Magazin Edge hat 151 Köpfe aus Wissenschaft, Technik und Kultur gefragt: What will change everything - was wird alles verändern? Alles heißt: die gesamte menschliche Zivilisation?
Viele Antworten kreisen um bekannte Motive: Künstliche Intelligenz, Lebensverlängerung, neue unerschöpfliche Energiequellen, Entschlüsselung des menschlichen Gehirns, Nanofabrikation. Also kolossale Technologien, die einen Epochenbruch bewirken werden. Gemeinsam ist ihnen, dass wir dabei Meister unseres Schicksals sind.
Nachdenklicher machen die Antworten, die die Veränderung in Ereignissen verorten, die wir kaum beeinflussen können. Der Psychologe Robert Provine stellt gar unsere Fähigkeit, einen epochalen Wandel zu erkennen, in Frage: "Wie frühere Generationen könnten wir die Revolution in Zeitlupe übersehen, die bereits stattfindet, nichtsahnend, dass wir Teil eines Ereignisses sind, dass alles verändern wird."
Für den Mathematiker Keith Devlin halten wir einen unscheinbaren Auslöser bereits in unseren Händen: Noch zu seinen Lebzeiten werde jeder Mensch auf der Welt über dieses Gerät verfügen und damit an der globalen Konnektivität und einem über Jahrhunderte angesammelten Weltwissen teilhaben können. "Die Welt ist nie, nie, nie vorher in einer solchen Situation gewesen."
Charles Seife, Professor für Journalistik an der New York University, entsteht dabei allerdings ein Problem: Unser Wissen werde zunehmend durch einen zusätzlichen Faktor begrenzt, nämlich "unsere Klugheit, wann wir Informationen ignorieren sollten - und wann sogar vergessen".
Passend zum Darwin-Jahr sehen einige der Befragten die Menschheit allerdings an der Schwelle zu einer neuen Stufe der Evolution, zum ersten Mal seit Beginn des Pleistozäns. Der Kognitionsforscher Andy Clark geht davon aus, dass innerhalb der Menschheit in den nächsten 100 Jahren eine kambrische Explosion der menschlichen Verschiedenheit - körperlich und geistig - stattfinden wird.
Und wenn nicht im Sinne von unterschiedlichen Arten wie Homo sapiens und Neandertaler, so doch in derart, dass kulturelle oder moralische Veränderungen Hand in Hand mit nachweisbaren genetischen Variationen gehen, meint der Psychologe Jonathan Haidt. Damit stehe uns eine neue Diskussion über menschliche Rassen ins Haus. Die "Bell-Kurven"-Debatte der Neunziger über angeblich rassische Unterschiede in Intelligenz sei harmlos im Vergleich zu dem, was kommt. Die neue Debatte werden bereits zwischen 2012 und 2017 ausbrechen.
Einige wie der Physiker Paul Davies erwarten, dass die Entdeckung nichtirdischen Lebens oder gar der Kontakt mit Aliens dem Menschen zu einer kosmischen Bescheidenheit verhelfen. Ich glaube auch, dass ein solches Ereignis alles andere in den Schatten stellen würde. Selbst die kopernikanische Wende wäre nichts dagegen.
Der Quanteninformatiker Anton Zeilinger wartet als einer der wenigen mit einer düsteren Möglichkeit auf: dem Zusammenbruch unserer weltumspannenden Computermaschinerie, ausgelöst durch einen elektromagnetischen Puls von Kernwaffen-Detonationen im erdnahen Weltraum. "Die Gesellschaft wird vollständig zusammenbrechen."
Wirklich weitsichtig finde ich allerdings Kai Krauses Antwort: "Lasst uns den Frieden und die Ruhe annehmen, die entstünden, wenn wir die [technischen] Dinge für eine Weile einfach so lassen, wie sie sind. Bringen wir sie erst einmal dem Rest dieses Planeten." Veränderung, indem wir uns eine Pause in der technischen Entwicklung verordnen. Aber das wird mit der kapitalistischen Dynamik leider nicht zu machen sein.
Nun haben sich Experten oft genug geirrt, wenn es um die Zukunft geht. Mich würde interessieren, was Sie meinen: Was wird alles verändern? Und noch dazu: Haben wir es selbst in der Hand, oder überschätzen wir uns als Menschen mal wieder? (wst)