Das Heisenberg-Syndrom
Seit einiger Zeit bemerke ich eine Häufung subtiler Qualitätsveränderungen bei Infrastruktur-Dienstleistungen und frage mich, ob das der Anfang eines Thrillers ist.
- Niels Boeing
In Thrillern kündigt sich das Unheil gerne durch Kleinigkeiten an, kaum wahnehmbare Veränderungen am Bildrand des Alltags, die sich nach und nach häufen und ein verstörendes Muster hervorbringen. Und mitunter, wie in Philipp K. Dicks Roman "Ubik", in der Frage gipfeln, in welcher Realität man sich eigentlich befindet.
Seit einiger Zeit bemerke ich eine Häufung solcher Veränderungen bei einigen Infrastruktur-Dienstleistungen. Die sind ja heute vollends in privater Hand und haben den Anspruch, Aufgaben besser als früher lösen zu können. Nicht zuletzt dank eines soliden Vertrauens in ausgeklügelte IT.
Nehmen wir die Post. Es fing damit an, dass Briefe innerhalb Hamburgs vier, fünf Tage kreisten. Dann wurde ein Paket an mich in einer Packstation in einem ganz anderen Stadtteil hinterlegt, obwohl die für mich zuständige Packstation 300 Meter entfernt ist. Ein andermal erhielt ich die Benachrichtigung, ein Paket habe nicht zugestellt werden können, 14 Tage später, also sieben Tage nach Ablauf der Lagerungsfrist. Vor drei Wochen dann eine besonders lustige Nummer: Ein Päckchen an uns ging wieder retour, weil die Adresse angeblich nicht stimmte - obwohl exakt die richtige Adresse darauf stand, wie sich später zeigte. Dabei werden Post und DHL etliche Rechenzentren haben, die ebendies vermeiden sollten.
Oder Banken. Ich hatte eigentlich gedacht, das Intermezzo beim Geldtransfer von einer zur anderen Bank habe sich verkürzt, weil ja nur noch Bits verschoben werden müssen. Nichts da: Bei mir abgebuchtes Geld kam kürzlich wieder mal geschlagene drei Tage später beim Empfänger an. Auf meine Nachfrage bei der Bank hieß es, es müssten noch bestimmte Dinge geprüft werden. Was sind das für Programmroutinen in der Banken-IT, die drei Tage laufen? Oder gibt es da immer noch gut verschwiegene Medienbrüche, so dass meine Online-Überweisung in irgendeiner kafkaesken Stelle ausgedruckt und physisch weiterbewegt wird?
Oder drahtloser Internetzugang. Schlimm genug, dass der von Hotels, Gastronomie, Bahnhöfen oder Flughäfen noch immer nicht als selbstverständlicher Service angeboten wird. Aber selbst gegen Bezahlung ist es doch eine der IT-Dienstleistungen schlechthin. Auf dem Kölner Hauptbahnhof entdeckte ich kürzlich diverse WLANs, die aber allesamt auf die Startseite eines ominösen Angebots der Ibis-Hotelkette und des Providers M3connect führten. Ich versuchte mich anzumelden, gab aber auf, als es nach Eingabe der Zahlungsdaten 10 Minuten nicht weiterging. Ein vielreisender Freund erzählte mir daraufhin, dass ihm das auf Bahnhöfen ständig passiere.
Von der Bahn brauchen wir eigentlich gar nicht zu reden. Die Verspätungen haben sich hier inzwischen in einer unglaublichen Spanne verfestigt, und ich schätze den Anteil pünktlicher Züge, die ich erleben darf, auf maximal zehn Prozent.
Ich komme mehr und mehr zu der Überzeugung, in einem Thriller mit dem Titel "Das Heisenberg-Syndrom" zu sein. Heisenbergs Unschärferelation besagt ja, dass bei bestimmten Paaren von Messgrößen nicht beide gleich exakt gemessen werden können (z.B. Ort und Impuls oder Energie und Zeit). Leicht abgewandelt auf die Informationsgesellschaft, besagt das Heisenberg-Syndrom, dass bei einem Infrastruktur-Dienstleister die Qualität seiner Dienstleistung umso unschärfer wird, je höher sein IT-Aufwand ist.
Auch in der Quantenmechanik stellt sich die Dick'sche Frage nach der Realität. Die Vielwelten-Interpretation behauptet, dass unsere Realität verzweigt ist. Das führt mich zur Frage, ob es irgendwann einen unbemerkten Realitätsbruch gab und wir uns seitdem von parallelen Realitäten wegbewegen, die in andere, immer noch weitgehend analoge Richtungen abbogen, in der alles ohne IT reibungslos funktioniert. Und schließlich die entscheidende Frage: Worin wird der Showdown der jetzigen, seltsamen Realität bestehen? Denn den muss es in jedem guten Thriller geben. (wst)