Meine persönliche Zeitblase

Ich wĂĽrde, um mehr Zeit zu haben, nicht in die Vergangenheit reisen, sondern lieber die Zeit anhalten.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Shirley MacLaine hat einmal sinngemäß gesagt, wenn sie sich für etwas belohnt, dann nicht mit Schokolade oder Einkäufen, sondern mit Zeit. Das kann ich gut nachvollziehen. Mit am liebsten schenke ich mir mehr Zeit zum Lesen. Vier Tage Ostern, das bedeutet vier Tage Zeit, um liegen Gebliebenes zu erledigen, die Familie besuchen, auszuschlafen und Mails von Freunden zu beantworten – und mehr Zeit zum Lesen.

Meine kleinen grauen Zellen feuerten schon in freudiger Erwartung und im Solar plexus breitete sich ein wohliges Gefühl aus, als ich letzten Donnerstag vor dem Bücherregal stand und überlegte, was ich mitnehmen sollte. Endlich eins der nicht-fiktionalen Bücher, die ich sonst immer verschmähe, weil ich finde, die kann man nicht einfach häppchenweise vor dem Schlafengehen lesen? Oder den letzten Impulskauf, den neuesten englischen Roman von Joanne Harris (die so leckere Bücher wie Chocolat geschrieben hat)? Doch dann dachte ich, zurzeit begegnet mir öfter das Thema Zeitreisen, und schwenkte zur Science-Fiction-Abteilung. Zeit für Zeitreisen zu haben, der Gedanke gefiel mir.

Die letzte New-Scientist-Ausgabe mit der Titelgeschichte über Quantencomputer, die die Antwort liefern, noch bevor die Frage gestellt wurde, steckte bereits in meinem Gepäck. Doch das dazu passende (und beste) Stück meiner SF-Abteilung war gerade verliehen: Audrey Niffeneggers Erstlingswerk „The time traveller’s wife“ hatte mein Kollege Gregor Honsel vermutlich bereits seinerseits im Gepäck für die österliche Heimfahrt verstaut. Das ist die ungewöhnlichste Zeitreisen-Geschichte, die mir je begegnet ist. Nachdem man schon glauben musste, es gäbe, was das Thema betrifft, nichts Neues mehr unter der Sonne, ist die Geschichte von Henry und Clare erfrischend neu und vor allem von bestechender Logik.

Die beiden begegnen sich aus Clares Sicht das erste Mal, als sie sechs Jahre alt ist und er 36, und aus Henrys Sicht, als er 28 und sie 20 ist. Das klingt verwirrender, als es ist. Henry leidet an einer genetischen Anomalie, die ihn zu unvorhersehbaren Zeiten (meist) in die Vergangenheit schickt – ohne Kleidung, ohne das Wissen, in welche Zeit es geht und wann er genauso überraschend wieder in die Echtzeit zurückspringen wird, und ohne jedwede Möglichkeit, das bereits Geschehene zu ändern. Henry und Clare – das ist Science(!) Fiction im besten Sinne: Als zum Beispiel Henrys Arzt versucht, die verantwortlichen Gene zu finden, verschwinden die damit geschaffenen Labormäuse aus den Testkäfigen, um einige Zeit später im Institutskeller wieder aufzutauchen. Wie lebt man, wenn man sich jederzeit buchstäblich in Luft auflösen kann und es bleibt – bis auf weiteres – nichts weiter zurück als ein Häufchen Kleidung? Dieser Blickwinkel gibt der Frage, ob Zeit zu haben Luxus ist oder nur geschickter Organisation bedarf, eine ganz neue Dimension.

Dennoch möchte ich manchmal meine eigene kleine Zeitmaschine haben. Nicht um die Vergangenheit ungeschehen zu machen oder um die Zukunft zu ändern, wie es in den meisten Zeitreise-Geschichten passiert. Sondern um so etwas wie kleine Zeitblasen zu erzeugen, sozusagen Aussackungen meiner Zeitlinie, in denen die Zeit still steht. Dann könnte ich all die Dinge tun, wozu der Alltag oft keine Zeit läßt, was häufig genug das Lesen betrifft.

Man könnte es natürlich auch so machen, wie Kollege Honsel, der die meisten Bücher nur einmal liest, um mehr Zeit für neue zu haben. Aber wenn ich schon die besagte Zeitmaschine nicht haben kann, dann wenigstens meine persönlichen Déjà-vu-Erlebnisse mit meinen Lieblingsbüchern.

Für die Zugfahrt habe ich dann schließlich Joanne Harris eingesteckt und mich zusätzlich von der Bahnzeitung in fremde Welten entführen lassen. Nun ist Ostern vorbei. Aber die nächste Bahnfahrt, die mich zumindest gefühlt ein wenig aus dem normalen Raum-Zeit-Gefüge entfliehen lässt, wartet schon. Meine kleinen grauen Zellen und der Solar plexus freuen sich bereits auf, tja, was genau? Vielleicht darauf, endlich meinen ersten Science-Fiction-Roman anzufangen. (wst)