Schlecht rasiert, doch reichlich angetan
Warum Technikbegeisterung in Japan eine Art Volkssport ist - und den Innovationsgrad des Landes ständig auf Weltniveau hält.
- Martin Kölling
Selten ist mir Japans Technikbegeisterung deutlicher vor Augen geführt worden als vorige Woche beim "Tag der offenen Tür" der Forschungslabors von Japans öffentlich-rechtlichem TV-Sender NHK. Mittelalte Männer in schlecht sitzenden Anzügen mit nervösem Blick und unregelmässig wegrasierten Bartstoppeln am Kinn hatten sich vor Großmesse-tauglichen Kleinständen postiert, um den interessierten Massen vier Tage lang das Fernsehen der Zukunft zu erklären. Und die Mengen strömten selbst am Donnerstagmittag in den verkehrstechnisch schlecht zu erreichenden Vorort Tokios. Rentner mit Hut, junge Studenten mit kleinkarierten Notizblöcken, Mädchen mit rosa UMTS-Handys – alle wollten NHKs Vision des "Super-Hi-Vision-TV" erleben.
Die Bonsai-IFA war liebevoll inszeniert: Die neue 33-Megapixel-Filmkamera durfte an einem bonbon-bunten Spielzeugstand ihr Auflösungsvermögen demonstrieren. Die Nachtsichtkamera gab eine im Dunkeln tanzende Geisha-Puppe in Farbe am Bildschirm aus. Und an den Highlights wie dem 30-Sekunden-Spot zum Thema 3D-TV war mit Bändern in weiser Voraussicht Platz für eine ungefähr 50 Meter lange Schlange abgesteckt worden.
Diese Art der raffinierten Darbietung selbst technischer Kleinstereignisse ist Teil der japanischen Selbstinszenierung, mit der das Land immer wieder seine technische Führerschaft beschwört, feiert und aufrechtzuerhalten versucht. Das Leitmotiv geben die großen Messen vor wie die Konsumelektronikmesse "Ceatac" oder die "Nanotech", wo es die richtig großen Wunder zu bestaunen gibt, präsentiert oft von knapp bekleideten Mädchen, die gerade der Boxengasse eines Formel-Eins-Rennstalls entsprungen zu sein scheinen. Dies soll wohl die Attraktivität des Ingenieurberufs bei jungen Männern erhöhen. Auch der Rest der Gesellschaft wird – besonders vom staatstragenden Sender NHK – erzogen zur Technikbegeisterung.
Ein jährlicher Höhepunkt sind beispielsweise die Roboterwettbewerbe von Schulen. Bei diesen müssen die Jugendlichen bestimmte vorgegebene Aufgaben mit ihren selbstgebauten Geräten siegreich bewältigen. Und Grund- und Mittelschülern wird mit landesweit zur besten Sendezeit übertragenen Bastelwettbewerben die Lust am Lösen technischer Probleme eingeimpft.
Mein bisheriger Lieblingswettkampf stand unter dem Motto, den langsamsten Domino-Parcour mit zum Teil vorgegebenen Instrumenten zu gestalten. Eine Klasse bastelte dazu Dominos aus Styropor-Platten und platzierte sie gerade so weit auseinander, dass sie die nächsten Platten nicht durch Kontakt, sondern nur durch den Windhauch zum Kippen brachten.
Das ist qualitativ sicher nicht so hochwertig wie ein teutonischer "Jugend Forscht"-Wettbewerb. Aber es unterstreicht die Verspieltheit, Experimentierfreude und die Liebe zum Detail, die es Japanern immer wieder erlaubt, Ideen umzusetzen, die ein deutscher Wissenschaftler verschämt verschweigen würde (wenn er sie überhaupt hätte). Viele selbst scheinbar abwegige Ideen und Produkte, die die Japaner auf diese Art in die Luft werfen, stürzen ab. Aber bisher lernten immer noch einige weltweit das Fliegen wie einst das elektronische Tamagotchi-Küken – und beflügeln damit Japans Vision von der Weltführerschaft bei elektronischen Geräten. (wst)