Ethisches Ungleichgewicht
Der Deutsche Ethikrat hat für eine Neuregelung des Stammzellgesetzes plädiert. Überraschend deutlich ist auch die Abschaffung der Stichtagsregelung eine Option.
- Veronika Szentpetery-Kessler
Der kĂĽrzlich aus dem Amt geschiedene Nationale Ethikrat hat als letzte Amtshandlung noch Stellung zu der Frage genommen, ob das Stammzellgesetz ĂĽberarbeitet werden sollte. Das heiĂźt, er hat es versucht. Herausgekommen ist ein Konglomerat aus drei verschiedenen Meinungen, die sich zum Teil diametral widersprechen. Doch die Mehrheit hat sich fĂĽr eine Lockerung des Gesetzes ausgesprochen, bei der die Stichtagsregelung auf ein jĂĽngeres Datum verschoben oder ganz aufgehoben werden sollte.
Das Stammzellgesetz ist eine Ergänzung zum Embryonenschutzgesetz und regelt die Ausnahmen, unter denen die Einfuhr von menschlichen embryonalen Stammzellen (human embryo stemcells, HES) zu Forschungszellen erlaubt wird. Die Einfuhr und Forschung mit HES ist nach wie vor verboten, es sei denn: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die mit ihrer Hilfe gewonnen werden sollen, sind von außerordentlicher Wichtigkeit und können auf keinem anderen Weg gewonnen werden; die HES stammen nicht aus Embryonen, die allein zu Forschungszwecken erzeugt wurden, sondern bei künstlichen Befruchtungen übrig blieben; oder sie wurden bereits vor dem Stichtag des 1. Januar 2002 gewonnen.
Folgende Vorschläge hat der Nationale Ethikrat hat in seiner Stellungnahme aufgeführt:
- Ende der Stichtagsregelung: Stattdessen sollen künftig alle Importanträge einzeln geprüft werden. Nach wie vor dürften dabei die HES nicht auf Veranlassung deutscher Forscher erzeugt werden. Die importierten HES müssen aus öffentlichen Stammzellbanken stammen, damit ausgeschlossen ist, dass aus der Erzeugung finanzielle Vorteile entstehen. HES sollen nicht nur zu Forschungszwecken, sondern auch für die Entwicklung von Diagnoseverfahren und Therapien eingesetzt werden dürfen.
- Verschiebung des Stichtages: Statt des derzeit geltenden Stichtages soll ein jüngerer gewählt werden. Damit soll der Kompromiss von 2002 gewahrt werden, deutsche Wissenschaftler aber bessere Forschungsbedingungen bekommen.
- Keine Novellierung des Stammzellgesetzes: Eine Lockerung des Stammzellgesetzes – sprich eine Aufkündigung des Kompromisses – bei gleichzeitiger Beibehaltung des Embryonenschutzgesetzes sei ethisch nicht vertretbar und der Öffentlichkeit kaum zu vermitteln.
Das Stammzellgesetz ist in der Tat ein Kompromissversuch zwischen eigentlich nicht zu vereinbarenden Positionen des absoluten Embryonenschutzes und des Rechts auf Forschungsfreiheit. Die Süddeutsche Zeitung schrieb sehr treffend: „Forscher sollen weiterhin akzeptieren, dass die Menschenwürde auch für einige Tage alte Embryonen gilt. Wenn jedoch Wissenschaftler im Ausland in den letzten Jahren Embryonen zerstört haben, dann können Forscher und Politiker hierzulande ihre Hände in Unschuld waschen. Sie haben die Zerstörung schließlich nicht veranlasst. Sie profitieren nur von etwas, das bereits geschehen ist.“
Das ist nur ein Punkt, der deutlich macht, dass der Nationale Ethikrat zu Recht die Frage aufgeworfen hat, ob die Regelung konsistent ist. Wenn man sich auch die anderen Annahmen anschaut, von denen das Gesetz ausgeht, findet man noch weitere Gründe. Wenn die Politik weiterhin akzeptiert, dass es in anderen Ländern möglich ist, HES aus Embryonen zu gewinnen (die dabei zerstört werden), die bei künstlichen Befruchtungen nicht eingesetzt wurden und es auch nicht mehr werden, dann muss das Gesetz überarbeitet werden.
Punkt 1: Deutsche Wissenschaftler dürfen derzeit zwar mit HES forschen, aber nur mit solchen, die – wie inzwischen bekannt ist – potenziell mit Viren- und Bakterienmaterial verunreinigt sind, weil sie auf Mauszellen gezüchtet wurden. So werden sie vom Fortschritt der internationalen Forschung abgekoppelt, da ihre Ergebnisse in der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht anerkannt werden. Deshalb wäre schon eine Verschiebung des Stichtages ein Fortschritt, weil inzwischen HES frei von Erregermaterial gewonnen werden können.
Punkt 2: Eine Stichtagsregelung ist nicht konsequent, da auch nach diesem Tag HES gewonnen werden. Jeder Stichtag wirft die Frage auf, was passiert, wenn danach bessere Stammzelllinien gewonnen werden können. Ein neuer oder nachlaufender Stichtag (etwa jeweils sechs Monate vor Antragstellung) würde die Diskussion immer wieder neu anfachen. Konsequenter wäre es tatsächlich, jeden Forschungsantrag mit HES ohne zeitliche Beschränkung einzeln darauf zu prüfen, ob die gesuchten wissenschaftlichen Erkenntnisse das Potenzial haben, eines Tages schwere Krankheiten wie Diabetes, Parkinson oder Alzheimer heilen zu helfen.
Punkt 3: Parallel zur Novellierung des Stammzellgesetzes sollten Forschungsarbeiten vorangetrieben werden, mit denen sich eines Tages der Einsatz von HES vermeiden ließe. Es muss zum Beispiel geprüft werden, ob nicht auch Verfahren mit Stammzellen aus Nabelschnurblut potent genug sind. Zum anderen sind da die Ergebnisse einer japanischen Forschungsgruppe, denen es bei Mäusen gelungen ist, Körperzellen so neu zu programmieren, dass ihre Eigenschaften denen von HES sehr ähnlich waren.
Mit der Stammzell-Stellungnahme stößt der Rat jedenfalls auch die längst fällige erneute Diskussion der ethischen Probleme an, die schon vor fünf Jahren bei der Verabschiedung des Gesetzeskompromisses nicht gelöst wurden: Dürfen Stammzellen aus „überzähligen Embryonen“ gewonnen werden, und wann beginnt menschliches Leben? Das Thema wird noch für weitere heiße Diskussionen sorgen, spätestens wenn der erste novellierte Gesetzesantrag eingereicht wird. (wst)