Twittern ist wie pupsen

Twittern ist für denjenigen, der es tut, eine Erleichterung, stellt aber für den Rest der Menschheit keinen Mehrwert dar.

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Von
  • Damian Sicking

Twitter-Fan Frank Garrelts

(Bild: Provoto)

Lieber Provoto-Chef und Twitter-Fan Frank Garrelts,

möglicherweise werden Sie mich nach dem Lesen dieses Textes nicht mehr besonders gut leiden können. Aber das muss ich in Kauf nehmen. Denn es geht um Wichtigeres als persönliche Beziehungen. Es geht um Twitter. Nicht dass ich etwas gegen Twitter habe oder Twitter blöd finde. Ich habe nur etwas gegen das Gewese, das vor allem in den Medien um Twitter gemacht wird, und dagegen, dass manche Menschen den Eindruck erwecken wollen, Twitter sei irgendwie relevant. Um es gleich hier zu sagen: Für mich ist Twittern so etwas wie pupsen: Es erleichtert denjenigen, der es tut (nämlich von dem Druck, irgendetwas loswerden zu müssen), stellt aber für den Rest der Menschheit keinen Mehrwert dar.

Wenn man den Medien glaubt, dann ist Twitter so etwas wie die Erfindung des Feuers. Vor allem die Wochenzeitschrift Wirtschaftswoche (Wiwo) hat sich offenbar der Mission "Twitter" verschrieben. Kaum eine Ausgabe ohne einen Twitter-Beitrag. Besonders beliebt bei den Wiwo-Redakteuren derzeit: Erlebniserzählungen über das erste Mal mit Twitter. So schrieb Sebastian Matthes Ende März seinen ersten mehrseitigen "Erfahrungsbericht", und in der aktuellen Print-Ausgabe (18/09, Seite 117) darf auch sein Kollege Thorsten Firlus aus seinem Twitter-Leben berichten (Artikel steht noch nicht auf wiwo.de). Eine mögliche Erklärung für die Twitter-Begeisterung der Wiwo-Redakteure: Ihr Chefredakteur Roland Tichy ist geradezu besoffen vor Twitter-Begeisterung und zwitschert fröhlich vor sich hin (Eintrag von gestern: "Ist Grün immer so grün oder war dieser Winter besonders grau?").

Auch Sie, lieber Herr Garrelts, sind ein Twitter-Fan, und wie ich bei unserem letzten Gespräch erfahren durfte, durchaus missionarisch unterwegs. Ich habe mich anschließend mit dem Thema ausführlicher beschäftigt und auch selbst einen Twitter-Account angelegt. Allerdings ist mir der sittliche Nährwert bis heute verschlossen geblieben.

Und so wie es aussieht, bin ich nicht der einzige. Die Zahl der Twitter-Nutzer in Deutschland ist sehr überschaubar. Anfang März dieses Jahres hatten wir hierzulande keine 30.000 aktiven Nutzer. (Nur mal eine Vergleichszahl: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland rund rund 29 Milliarden SMS verschickt.) Bei einer wichtigen Bevölkerungsgruppe, von der sonst viele Web-2.0-Themen ausgehen und getrieben werden, ist Twitter bisher noch überhaupt nicht angekommen: den Jugendlichen. Nicht nur zuckten meine beiden Kinder (19 und 20 Jahre alt, eifrige SMS-Versender und Facebook- sowie Lokalisten-User), ahnungslos und uniteressiert mit den Schultern, als ich sie auf Twitter ansprach. Auch eine aktuelle Studie belegt: "Twitter ist bei Jugendlichen unbeliebt" (Headline). Hm, kostet nichts und wird trotzdem von den Jugendlichen ignoriert? Sagt auch eine Menge über den Nutzen von Twitter aus, wenn Sie mich fragen.

Wie gesagt: Ich habe nichts gegen Twitter und natürlich erst recht nichts gegen die Menschen, die twittern. Ich habe auch nichts dagegen, wenn erwachsene Menschen mit Murmeln im Sandkasten spielen. Ich habe nur etwas gegen Menschen, die behaupten, mit Murmeln im Sandkasten spielen sei irgendeine wichtige und relevante Beschäftigung und alle, die es nicht tun würden, seien von gestern. Twittern ist irrelevant, zumindest in wirtschaftlicher und geschäftlicher Hinsicht (daher verstehe ich die ausführliche Berichterstattung vor allem in der Wiwo nicht), was ja an sich nichts Schlimmes ist. Man kann viele irrelevante Dinge tun, zum Beispiel weil sie Spaß machen.

Gott sei Dank habe ich dann doch noch einen Artikel eines Twitter-Selbstversuchskaninchens gefunden, der nicht so missionarisch daherkommt wie andere. Der Journalist Dirk von Gehlen schreibt in der Süddeutschen Zeitung: "Twitter ist in erster Linie ein hervorragendes technisches Werkzeug, um Small Talk im Internet zu führen. Ja, Twitter ist der Ort für Befindlichkeiten und Plaudereien." Ergänzung von mir: Nicht weniger, aber vor allem nicht mehr. Daher übersetze ich "Twitter" auch nicht wie andere mit "Gezwitscher", sonderm mit "Geschnatter".

Beste Grüße

Damian Sicking

Weitere Beiträge von Damian Sicking finden Sie im Speakers Corner auf heise resale. ()