Erinnerungen, alle 30 Sekunden

Eine von Microsoft Research entwickelte Spezialkamera nimmt regelmäßig Bilder auf, um dem Gedächtnis Demenzkranker auf die Spur zu helfen.

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Von
  • James Butcher

Als Frau B. im März 2002 ins Krankenhaus kam, diagnostizierten die Ärzte etwas sehr Ernstes – die so genannte limbische Enzephalitis, eine Gehirnentzündung, die ihr autobiografisches Gedächtnis stark angriff. Im Ergebnis kann sie sich nur noch an rund zwei Prozent der Ereignisse erinnern, die in der vergangenen Woche geschahen, und vergisst häufig wichtige Personen. Ein einfaches Gerät namens SenseCam, eine kleine digitale Kamera, die bei Microsoft Research im britischen Cambridge entwickelt wurde, konnte ihre Gehirnleistung nun aber deutlich verbessern. Sie erinnert sich bereits wieder an 80 Prozent der Ereignisse – und das auch noch sechs Wochen später, wie eine Studie ergab.

"Die SenseCam erlaubt es den Nutzern nicht nur, sich an Dinge zu erinnern, wenn sie die Bilder ansehen, was schon an sich wunderbar wäre. Es stellte sich heraus, dass es nach einer anfänglichen Phase der Festigung zu einem Langzeiterhalt der Erinnerungen kommt – und zwar über viele Monate, ohne dass man die Bilder wiederholt ansehen müsste", sagt die Neuropsychologin Emma Berry, die Microsoft berät.

Die SenseCam wird um den Hals getragen und nimmt automatisch mindestens alle 30 Sekunden Weitwinkelfotos in niedriger Auflösung auf. Sie enthält einen Beschleunigungsmesser, um das Bild zu stabilisieren und Unschärfen zu vermeiden. Die Kamera reagiert zudem auf Bewegungen, Temperaturveränderungen und unterschiedliche Beleuchtungszustände. "Weil wir mit einem Weitwinkelobjektiv arbeiten, muss man die Kamera nicht auf irgendetwas richten – sie fängt einfach nur fast alles ein, was der Träger sieht", erläutert Steve Hodges, Manager der "Sensor and Devices Group" bei Microsoft Research.

Die Ereignisse eines ganzen Tages können so digital auf einer Speicherkarte abgelegt und dann auf einen PC übertragen werden, um sie später zu betrachten. Mit einer speziell entwickelten Software können die Microsoft-Forscher die Bilder außerdem in einen kurzen Film verwandeln, der die Aufnahmen mit einer Geschwindigkeit von zehn Einzelbildern pro Sekunde darstellt. So entsteht ein Video, das die Ereignisse eines ganzen Tages in wenige Minuten fasst.

Die SenseCam wurde ursprünglich als Erinnerungshilfe für gesunde Menschen entwickelt, doch die Technologie wird derzeit auch in klinischen Tests an Patienten mit Gedächtnisproblemen überprüft – etwa Demenzkranken. Narinder Kapur, Leiter der Abteilung für Neuropsychologie am Addenbrooke's Hospital in Cambridge, prüft die SenseCam bei acht Personen. In einer ersten Fallstudie an Frau B., die in der wissenschaftlichen Zeitschrift "Neuropsychological Rehabilitation" veröffentlicht wurde, zeigten der Forscher und sein Team, dass die Patientin die meisten nicht trivialen Ereignisse behalten konnte, nachdem sie die Aufnahmen rund eine Stunde mit ihrem Mann betrachtete – alle zwei Tage in einer Phase von zwei Wochen.

Die SenseCam könnte auch Patienten mit milden Formen von Alzheimer helfen, meint Giovanni Frisoni, Neurologe in Brescia, der an einem Forschungsinstitut arbeitet. Er ist allerdings skeptisch, ob die Kamera auch ohne Hilfe des Pflegepersonals verwendet werden könnte. Grundsätzlich helfe eine solche Technik aber dabei, den Patienten Ängste zu nehmen. "Fast alle Alzheimerpatienten leiden starke Qualen, weil sie spüren, aber oft nicht zugeben wollen, dass sie sich an die jüngste Vergangenheit nicht mehr erinnern können. Die letzten Ereignisse durchgehen zu können, würde sie sicher ruhiger werden lassen." Genau diese Hilfe benötigten viele Patienten, bekämen sie aber viel zu selten.

Lisa D'Ambrosio, Forscherin am Alterslabor AgeLab des MIT, sieht im SenseCam-Ansatz ebenfalls Vorteile für Alzheimererkrankungen im Frühstadium. Angehörige und Pflegekräfte könnten außerdem davon profitieren, wenn die Bilder automatisch und drahtlos übertragen würden: "So kann man prüfen, ob es Mutter oder Vater gut geht, das wäre wie die Messung ihres Pulses." Auch ältere Menschen ohne direkte Gedächtniseinschränkungen könnten womöglich von der Technik profitieren, wenn Pflegekräfte sie zur Überwachung ihrer Schützlinge einsetzen könnten.

Zusätzliche Forschergruppen sollen sehr bald weitere mögliche klinische Anwendungen der SenseCam testen. Ende November kündigte Microsoft an, dass dazu insgesamt 550.000 Dollar an Teams in Großbritannien und Nordamerika gehen werden. Einer der bedachten Forscher, der klinische Psychologe Fergus Gracey vom "Oliver Zangwill Centre for Neuropsychological Rehabilitation" im britischen Ely, plant die Erprobung der SenseCam an Patienten mit Hirnverletzungen, die zu Aggressivität neigen. "Wir hoffen, dass das nachträgliche Durchsehen der SenseCam-Bilder hilft, die auslösenden Situationen zu erfassen – zusammen mit der Herzfrequenz des Patienten während dieses Ereignisses." So könnten sich die Betroffenen dann erinnern und in der Therapie psychologisch darauf einlassen, was eigentlich passiert ist. (bsc)