Ein Ende aller Tierversuche?

Eine neue US-Initiative arbeitet an Gefahrentests für neue Chemikalien, bei denen die Stoffe direkt an Zellen geprüft werden können.

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Von
  • Anna Davison

Die Chemieindustrie entwickelt ständig neue Pestizide, Reinigungsmittel und andere potenziell interessante Stoffe – dem Fortschritt in Bio- und Nanotechnik sei Dank. Gleichzeitig können die für all die geplanten Produkte notwendigen Sicherheitstests aber immer seltener mithalten. Tierversuche, die in den letzten Jahrzehnten als grundlegend beste Methode galten, Stoffe auf ihre Giftigkeit hin zu analysieren, dauern lange, sind nicht gerade kostengünstig – und werden von der Kundschaft immer seltener akzeptiert. Gleichzeitig lassen sich, so weiß die Forschung heute, entsprechende Ergebnisse bei weitem nicht immer auf den Menschen übertragen. Kein Wunder also, dass die Wissenschaft seit Langem nach besseren Alternativen sucht.

Auf dem im Februar abgehaltenen Jahrestreffen der US-Forschungsgemeinschaft AAAS in Boston kündigten die amerikanische Umweltschutzbehörde EPA und die US-Nationalinstitute für Gesundheit (NIH) deshalb nun eine mehrjährige Wissenschaftspartnerschaft an, die einen zellbasierten Ansatz entwickeln soll, der Tierversuche auf lange Sicht ersetzen könnte. Erste Studien zum Thema laufen bereits.

Immerhin können die Forscher bereits vorhandene Erkenntnisse im Bereich der Schnelltests für neue Medikamentenwirkstoffe nutzen, die in den letzten Jahren aufkamen. Dabei werden Chemikalien an Zellen getestet und nicht mehr an lebenden Kreaturen.

Was heute im Tierversuch mehrere Wochen dauert und zur Tötung und Sezierung dutzender bis hunderter Lebewesen führt, könnte so mit automatisierten Systemen in Tagen oder gar Stunden erledigt sein. Das beste daran: Die Versuchszellen wären auf Wunsch sogar menschlich, also passgenau. Verschiedene Zellarten könnten dabei für unterschiedliche Gewebebereiche verwendet werden – etwa zur Untersuchung, was ein neuer Stoff potenziell in der Leber anrichten kann. So ließe sich die Gefährlichkeit wesentlich genauer vorhersagen.

"Diese Technologie hat das Potenzial, die Sicherheitsprüfung für neue chemische Stoffe zu revolutionieren", meint Francis Collins, Direktor des US-Nationalinstituts für die Erforschung des menschlichen Genoms. Automatisierte Zelltests könnten innerhalb eines Tages mehrere tausend Stoffe abprüfen. Bislang wurden detaillierte Informationen zu wenigen tausend giftiger Chemikalien in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragen.

"Wir müssen die Möglichkeit haben, Tausende von Verbindungen unter Tausenden von unterschiedlichen Bedingungen wesentlich schneller zu testen, als das früher machbar war", sagt NIH-Direktor Elias Zerhouni. Man übertrage deshalb Erkenntnisse aus den pharmazeutischen Labors, bei denen solche Screenings mit hohem Durchsatz zur Entdeckung neuer Medikamente erfolgreich genutzt werden, nun auf diesen Bereich. In der Pharmazie ist es bereits möglich, tausende Medikamentenkandidaten in 24 Stunden zu testen – samt ihrer Auswirkungen auf menschliche Zellen und damit ihrem therapeutischen Wert. Das Ziel der Toxizitätsforschung sei es nun, diesen Prozess umzudrehen, um die Zusammensetzungen zu erkennen, die giftig seien, sagt Experte Collins. Mögliche Indikatoren sind dabei beispielsweise die Anzahl der abgetöteten Zellen oder die Prüfung von Markern, die Aufschluss darüber gehen, ob die Zelle noch korrekt arbeitet.

Durch den hohen Durchsatz lassen sich gleichzeitig auch unterschiedliche Konzentrationen und Wirkzeiten überprüfen. Christopher Austin, Direktor des "Chemical Genomics Center" an den NIH, glaubt, dass sich so große und vor allem verlässliche Datenmengen gewinnen lassen, die "nicht nur eine statistische Annäherung" darstellen. "Das ist Pharmakologie." Um alle notwendigen Antworten zu halten, müssten eben auch alle Konzentrationen und alle Wirkzeiten abgeprüft werden. "Genau deshalb brauchen wir eine hohe Bandbreite."

NIH-Forscher haben solche Verfahren bereits angewandt, um mehrere tausend Chemikalien zu testen – mit 15 stark verschiedenen Konzentrationsstufen und Wirkzeiten von Minuten bis hin zu Tagen. Die getesteten Stoffe waren bereits aus Tierversuchen als giftig bekannt. Mit diesen Vergleichsdaten soll es nun möglich sein, die Zelltests so zu verfeinern, dass sie mindestens genauso verlässlich und aufschlussreich wie Experimente an Lebewesen sind.

"Tiere geben uns nicht immer die richtige Antwort", sagt John Bucher, stellvertretender Direktor des US-Nationalprogramms für Toxikologie. "Wir müssen also alle Informationen verwenden, die wir kriegen können – und zwar von verschiedenen Systemen."

NIH-Forscher Austin sieht mit dem neuen Ansatz die alten Tierversuch-Prozesse quasi "auf den Kopf gestellt". Statt einer Ratte eine Chemikalie zu geben und dann das Tier zu sezieren und das Gewebe zu untersuchen, um eventuelle negative Auswirkungen festzustellen, werde nun die Ratte bildlich gesprochen erst bis auf ihre Zellsegmente seziert und dann im Computer wieder zusammengesetzt.

Es könnte allerdings noch Jahre dauern, bis die Forscher beweisen können, dass Zelltests Tierversuchen wirklich stets überlegen sind. "Wir können damit nicht einfach aufhören. Beides wird einige Jahre parallel laufen", glaubt NIH-Direktor Zerhouni. (bsc)