"Eine neue Sicht des Universums"

Der Bau des "Large Hadron Collider" (LHC) am Schweizer Kernforschungszentrum CERN hat 14 Jahre gedauert und knapp vier Milliarden Euro verschlungen. Nobelpreisträger Jerome Friedman erklärt, warum das Experiment die Mühe wert ist.

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Von
  • Jerome Friedman

Das Universum in der Röhre (6 Bilder)

Präzisionsarbeit:

Der Compact Muon Solenoid (CMS), eines von vier Großexperimenten am LHC, besteht aus elf Segmenten – allein das hier gezeigte wiegt 1270 Tonnen. Um das Teil in die 90 Meter tiefe Experimental-Kaverne zu bugsieren, benötigten die CERN-Techniker rund elf Stunden, denn der enge Schacht erforderte genauestes Manövrieren. (Bild: CERN)

Der Bau des "Large Hadron Collider" (LHC) am Schweizer Kernforschungszentrum CERN hat 14 Jahre gedauert und knapp vier Milliarden Euro verschlungen.Physik-Nobelpreisträger Jerome Friedman erklärt, warum das Experiment die Mühe wert ist. In Ausgabe 07/08 (seit dem 19.6. am Kiosk oder hier portokostenfrei online zu bestellen), zeigt TR in einer Fotostrecke Bilder vom Abschluss der Vorbereitungsarbeiten.

Der Physiker Jerome Friedman, erhielt 1990 zusammen mit Richard E. Taylor und Henry W. Kendall den Nobelpreis für Physik für Experimente zur inelastischen Streuung von Elektronen an Protonen und Neutronen. Die Experimente hatten die Bestätigung für die Theorie geliefert, dass die Atomkern-Bestandteile (Protonen und Neutronen) aus kleineren Teilchen, den so genannten Quarks, bestehen. Friedman ist als Professor am Massachusetts Institute of Technology tätig.

Der kürzlich fertig gestellte Große Hadron-Beschleuniger (Large Hadron Collider, LHC) gilt als leistungsstärkster Teilchenbeschleuniger aller Zeiten und soll einige der ältesten Fragen der Physik klären helfen. In dem 27 Kilometer langen unterirdischen Ring, der mit supraleitenden Magneten bestückt ist, werden gegenläufig rotierende Protonenstrahlen mit einer Energie von Sieben Teraelektronenvolt aufeinander treffen. Diese ungeheuren Kollisionsenergien könnten völlig neue Elementarteilchen erzeugen, die tausende Male schwerer sind als Protonen. Darüber hinaus werden Physiker Phänomene beobachten können, die auf kleinere Entfernungen wirken als das Zehnmilliardstel eines Atoms.

Die Messungen erfolgen mit Hilfe von vier massiven Teilchendetektoren: Atlas, CMS, LHCb und ALICE. Alle Detektoren verfügen über etwa 100 Millionen elektronische Signalkanäle, und zählen zusammen mit dem Beschleuniger zu den fortschrittlichsten Technologien der Welt.

Warum aber ist der LHC so wichtig? Er soll dabei helfen, das so genannte Standard-Modell der Teilchenphysik, das den innersten Aufbau der Materie beschreibt, zu erweitern. Das ursprüngliche Modell, das mit Hilfe der existierenden Teilchenbeschleuniger experimentell mit großer Präzision bestätigt wurde, gilt als eines der größten intellektuellen Triumphe des 20. Jahrhunderts. Das Modell ist allerdings unvollständig, weil es von einem Masse-erzeugenden Mechanismus ausgeht, der in Versuchen noch nicht abgesichert werden konnte. Deshalb ist eines der Hauptziele des LHC, die Existenz dieses sogenannten Higgs-Feldes zu beweisen – oder aber einen alternativen Mechanismus aufzudecken. Berechnungen weisen darauf hin, dass das LHC durchaus in der Lage ist, die Existenz der postulierten Higgs-Partikel, wie die Quanten des Higgs-Feldes heißen, zu bestätigen. Diese Entdeckung würde eine der größten Fragen der Physik beantworten helfen, nämlich wie Masse im Universum entsteht.

In diesem Energiebereich können aber auch physikalische Gesetze und Symmetrieregeln in der Natur erforscht werden, die über das Standard-Modell hinausgehen. Wir werden insbesondere nach Hinweisen auf die Supersymmetrie suchen können: das ist ein Phänomen, das aus zwei Gründen viel Aufmerksamkeit erfahren hat – zum einen weil es die Quantentheorien der Gravitation erklären hilft; zum anderen weil es die Energieskala des Standard-Modells gegenüber so genannten Quantenfluktuationen stabilisiert.

Die Supersymmetrie besagt, dass es zusätzlich zu den bekannten Elementarteilchen gleichsam spiegelbildlich Partnerteilchen gibt, die die gleiche elektrische Ladung aber unterschiedliche Spins haben. Theoretisch ist der LHC leistungsstark genug, um die leichtgewichtigsten supersymmetrischen Partnerteilchen zu erzeugen. Unter ihnen ist ein neutrales Teilchen von besonderem Interesse, weil es ein hervorragender Kandidat für die mysteriöse dunkle Materie wäre, die 23 Prozent der gesamten Masse-Energie im Universum ausmacht.

Eine weitere Frage ist, ob zusätzliche Dimensionen existieren. Diese Spekulation wurde durch die String-Theorie sowie die Beobachtung aufgeworfen, dass diese Dimensionen die Schwäche der Gravitation im Vergleich zu anderen elementaren Kräften erklären könnte. Der LHC wird Untersuchungen darüber anstoßen, warum die Antimaterie aus dem Universum verschwand und nur Materie erhalten blieb. Wäre diese Asymmetrie nicht in unseren physikalischen Gesetzen verankert, würden wir und das bekannte Universum nicht existieren.

Diese und eine ganze Reihe weiterer tief greifender Fragen werden untersucht werden; aber wenn die Geschichte etwas lehrt, dann dass der LHC auch mit Überraschungen aufwarten wird: Phänomene, die in keiner theoretischen Überlegung vorhergesehen wurden. Der LHC wird eine neue Ära der von Entdeckungen einläuten, die unsere Vorstellungskraft erweitert: Neue Formen von Materie, neue Kräften und neue räumliche Dimensionen. Kurz: Er wird uns eine revolutionär neue Sicht auf das Universum geben. (wst)