"Man muss ja einen konkreten Zweck angeben können"
Der Teilchenbeschleuniger LHC am Cern ist ein Forschungsinstrument der Superlative. Stößt die Physik mit ihm an die Grenzen dessen, was man wissen kann? Ein Gespräch mit dem Wissenschaftsphilosophen Reiner Hedrich.
- Marcel Hänggi
Am 10. 9. ist es endlich soweit, dann soll der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, der Lage Hadron Collider (LHC), am Kernforschungszentrum Cern bei Genf seinen Betrieb aufnehmen. Das Mega-Experiment soll den Wissenschaftlern neue Aufschlüsse darüber geben, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.
Auf der Suche nach diesem Zusammenhang haben die Teilchenphysiker bisher immer neue Puzzlesteine gefunden – einen ganzen Zoo exotischer subatomarer Teilchen. Selbst die Bestandteile des Atomkerns, die Protonen und Neutronen, sind aus noch kleineren elementaren Bestandteilen zusammengesetzt: Quarks und Gluonen.
Das so genannte Standardmodell der Elementarteilchenphysik erklärt, wie das geht: Demnach bestehen die Grundbestandteile aus Atomkerns aus Quarks, die Gluonen austauschen und so zusammengehalten werden - ähnlich wie ein Elektron die Protonen eines Wasserstoff-Moleküls verbindet. Dabei hält sich das Elektron mal bei dem einen Proton auf und mal bei dem anderen. Beide Zustände sind energetisch ungünstiger als der kombinierte Zustand, in dem das Elektron beide Protonen umkreist und so die beiden Kerne bindet. Dieses Denkmodell lässt sich im Prinzip nicht nur auf die Kräfte im Inneren von Atomkernen anwenden: (Fast) jede Kraft, lässt sich im Standardmodell durch den Austausch von Wechselwirkungsteilchen darstellen.
Damit das atomare Puzzle passt, muss man jedoch annehmen, dass es mindestens zwei verschiedene Sorten (Flavour) von Quarks gibt, die unterschiedliche elektrische Ladungen besitzen. Neutronen kann man so beispielsweise aus zwei Up-Quarks und einem Down-Quark zusammensetzen. Teilchen, die dieser starken Wechselwirkung im Kern unterliegen, heißen Hadronen. Um die zahlreichen anderen beobachteten Teilchen zu erklären, muss man noch vier weitere Quark-Sorten einführen. Die oben genannte Kraft zwischen den Quarks durch Gluonenaustausch kommt durch eine neue Eigenschaft der Quarks zustande. Sie wird "Farbe" genannt und tritt in drei elementaren Varianten auf, die in Analogie zur Farblehre Rot, Grün und Blau heißen. Im Neutron neutralisieren sich die drei Farbladungen der Quarks, es ist "weiß"– das gilt im Prinzip für alle stabilen, in der Natur vorkommenden Teilchen.
Das Elektron fällt aus diesem Schema heraus, denn es reagiert nicht auf die starken Kernkräfte. Solche Teilchen werden als Leptonen bezeichnet. Sie reagieren auf die so genannte elektroschwache Wechselwirkung, indem sie ebenfalls spezielle Quanten austauschen. Eigentlich müsste die Masse dieser vermittelnden Teilchen null sein. Allerdings ist nur das Photon masselos. Die Bosonen Z0, W- und W+ besitzen dagegen von null verschiedene Massen. Um dieses Problem zu lösen, haben die Physiker im Standardmodell ein hypothetisches Partikel eingeführt, das Higgs-Boson, dessen Nachweis sich damit als Prüfstein des Standardmodells erweist.
Allerdings hat das Standardmodell einen kleinen Haken: Alle darin beschriebenen Teilchen sind masselos. Um Masse, und damit Gravitation, in das Modell einzufĂĽhren, wurde das Higgs-Teilchen postuliert, aber bis heute nicht nachgewiesen.
Doch es harren noch grössere Probleme einer Lösung als das Higgs-Boson. Die zeitgenössische Physik arbeitet mit zwei grossen Theoriegebäuden: den Relativitäts- und den Quantentheorien. Erstere erklären Phänomene im ganz Großen, letztere Phänomene im ganz Kleinen. Diese Theoriegebäude widersprechen sich. In Teilchenbeschleunigern werden sehr grosse Energien auf sehr engem Raum konzentriert, so dass die Welt des Grossen und die Welt des Kleinen zusammentreffen. Deshalb erhoffen sich die PhysikerInnen aus solchen Experimenten Hinweise darauf, wie sich die Widersprüche auflösen liessen.
Knackpunkt ist auch hier die Gravitation (Schwerkraft), die quantentheoretisch nicht erklärbar ist. Die Physik beobachtet vier Wechselwirkungen (Kräfte) zwischen Materieteilchen – die starke, die schwache, die elektromagnetische Wechselwirkung und die Gravitation. Viele PhysikerInnen hoffen, alle vier Kräfte als Ausdruck einer einzigen Urkraft verstehen zu können – das wäre die "Theorie für Alles" oder "Weltformel". Für die ersten drei Kräfte ist diese Vereinheitlichung gelungen.
Wird die Vereinheitlichung eines Tages ganz gelingen und auch die Gravitation mit einbeziehen? Der ambitionierteste Ansatz dazu heisst Superstringtheorie. Sie postuliert, dass die "Teilchen" ihrerseits aus "Strings" (englisch für Saite) aufgebaut seien – aus eindimensionalen, schwingenden Objekten. Damit diese Theorie mathematisch möglich ist, muss der Raum mindestens neun Dimensionen aufweisen.
Bisher ist nicht absehbar, dass die Superstringtheorie jemals experimentell überprüfbar sein wird. Verlässt sie theoretische Physik damit den Boden der Wissenschaft und wird zur puren Spekulation? Reiner Hedrich, Wissenschaftsphilosoph an der Technischen Universität Dortmund, befasst sich mit Theorien und Konzepten der zeitgenössischen Physik und hat die Debatte über die Wissenschaftlichkeit moderner physikalischer Konzepte untersucht.
Technology Review: Herr Hedrich, wenn man die Physiker fragt, was sie sich vom LHC erhoffen, so wird als erstes die experimentelle Bestätigung des Higgs-Bosons genannt. Ein milliardenteures Experiment, nur um ein Teilchen zu finden, dessen Existenz sowieso alle annehmen?
Reiner Hedrich: Man muss ja einen konkreten Zweck angeben können, wofür man das Geld ausgeben will. Das Higgs-Teilchen eignet sich dafür gut. Es ist interessant, weil damit die Quantenfeldtheorie (eine Weiterentwicklung der Quantenphysik, Anm. der Red.) steht und fällt. Existiert es nicht, muss man eventuell eine ganz neue Theorie entwickeln. Aber es geht am LHC nicht nur um das Higgs-Boson. Es gibt im Bereich der Quantengravitation viele hoch spekulative Theorien, zu denen man sich vom LHC Hinweise erhofft. Beispielsweise die Superstringtheorie. Diese erfordert die "Supersymmetrie", das heisst, zu jedem bekannten Teilchen muss ein "supersymmetrischer" Partner existieren. Findet man keine solchen Partnerteilchen, würde das darauf hinweisen, dass die Superstringtheorie falsch ist. Vielleicht findet man mit dem LHC aber auch gar nichts, das die Physik weiter bringt.
TR: Was bedeutet eigentlich "Teilchen"? Ist das etwas, das es tatsächlich gibt – oder ist das nur ein abstraktes Konzept, um die Welt mathematisch zu fassen?
Hedrich: Der Begriff ist sehr problematisch. "Higgs-Teilchen" ist nur ein Begriff für eine Ausprägung eines Quantenfeldes, des Higgs-Feldes. Mit dem Alltagsbegriff hat das nichts zu tun.