Erbgut global

Gendaten und Stammzellen von Freiwilligen, die am Personal Genome Project teilgenommen haben, sollen nun weltweit für die Forschung verfügbar gemacht werden.

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Von
  • Emily Singer

Forscher auf der ganzen Erde dürfen demnächst mit kleinen Stückchen des renommierten Genforschers George Church experimentieren. Der Harvard Medical School-Professor gehört zu den ersten Menschen auf der Welt, aus deren Hautzellen Stammzelllinien produziert werden, um sie dann in der globalen Forschungsgemeinde zu vertreiben – zusammen mit einer Datensammlung zur Identität des Spenders und seinen genetischen und medizinischen Eigenheiten.

Church und seine Kollegen hoffen, dass diese Zellen eine ganz neue Dimension genetischer Untersuchungen menschlicher Krankheiten ermöglichen wird. Die meisten aktuellen Studien vergleichen das Genom einer Gruppe von Personen mit einem bestimmen Phänotyp – beispielsweise Menschen mit Diabetes oder Herzkrankheiten – mit dem gesunder Freiwilliger. Wären jedoch auch Stammzelllinien vorhanden, die sich zu Gewebetypen ausdifferenzieren lassen, die von der untersuchten Krankheit betroffen sind, würde das Forschern erlauben, die molekularen Veränderungen zu ermitteln, die zwischen einer entsprechenden Genausstattung und dem tatsächlichen Krankheitsausbruch liegen. "Für nahezu jede genetische Variation gibt es auch eine Veränderung auf Zellebene", sagt Church. Mit der gleichzeitigen Auslieferung von Genom und Stammzellen soll sich das nun genau erforschen lassen.

Möglich wird dies durch eine neue Methode zur Generierung induzierter pluripotenter Stammzellen mit Hilfe einer Umprogrammierung adulter Zellen. Sie gilt als wichtiger Durchbruch in der Stammzellforschung und ermöglicht Forschern, unsterbliche Zelllinien gesunder menschlicher Spender zu schaffen, die sich wie embryonale Stammzellen verhalten und zu vielen verschiedenen Gewebetypen heranwachsen können. Zellkulturen sind längst ein wichtiger Teil der biomedizinischen Forschung zur Untersuchung von Krankheiten, dem Test von Medikamenten oder dem Nachbau von Gewebe. Doch die meisten Zellen können keine anderen Gewebetypen bilden und stammen stets von einem anonymen Spender – medizinische Daten oder andere Charakteristika fehlen völlig. Hinzu kommt, dass viele "unsterbliche" Zelllinien, die sich unendlich teilen können, von Tumorzellen stammen und deshalb über abnorme Chromosomen verfügen.

Church ist nicht der einzige, dessen Zellen weltweit vertrieben werden sollen. Der Forscher will Hunderte und später sogar Tausende von Zelllinien in den nächsten Jahren im Rahmen des Personal Genome Project verteilen. Das PGP wurde vor zwei Jahren gestartet, um die Fortschritte, die in letzter Zeit bei der Gensequenzierung gemacht wurden, möglichst breit zu nutzen. Bislang hat das Projekt zehn Freiwillige angeworben – und für viele Schlagzeilen gesorgt, darunter den Vorwurf eines neuen "genetischen Exhibitionismus". Teilnehmer wie der Harvard-Psychologe Steven Pinker und die Unternehmerin Ester Dyson veröffentlichten ihre Krankengeschichte und eine vorläufige Genanalyse im Oktober im Netz. Doch die meisten Beobachter ignorierten dabei, dass sie noch etwas wesentlich Persönlicheres abgaben: Jeder Teilnehmer erhält eine Hautbiopsie, deren Ergebnis zur Generierung der erwähnten Stammzelllinien verwendet wird.

Diese werden es Forschern erlauben, Zellen zu untersuchen, deren genetisches und klinisches Profil genau bekannt ist. Wer mit Pinkers Material arbeitet, kann zum Beispiel vorher lesen, dass er an einem Basalzellenkarzinom erkrankt war, an einem entzündlichen Hautleiden laboriert und das Reynaudsche Syndrom hat, bei dem Finger und Füße sehr temperaturempfindlich sind.

"Dies ist der erste echte Schritt hin zu einer Quantifizierung, wie verschiedene Genome ineinander greifen, um uns Menschen herzustellen", sagt James Sherley, Stammzell-Biologe am Boston Biomedical Research Institute und einer der ersten Freiwilligen des PGP. "Die Antwort darauf, warum die Genexpression nicht deterministisch ist, wie die Umwelt den Genotyp beeinflusst und wie ein und das selbe Genom ein Auge, ein Herz und ein Gehirn erzeugen kann – all diese Mysterien lassen sich mit solchen Experimenten potenziell lösen."

Church will in der nächsten Phase des Projektes bis zu 100.000 Freiwillige zum Mitmachen bewegen und eine abgleichbare Datenbank genetischer, medizinischer und sonstiger wichtiger persönlicher Eigenschaften schaffen, die dann mit Zellen der Personen kombiniert werden. Forscher auf der ganzen Welt könnten dann ihre eigenen Experimente entwickeln und Daten und Zellen des PGP benutzten.

Das ambitionierte Projekt befindet sich noch in einer sehr frühen Phase. Bislang haben Jay Lee, Forscher im Church Labor und In Hyun Park, ebenfalls Harvard, nur Stammzelllinien von zwei Freiwilligen erzeugt: Die von Church selbst und von Rosalynn Gill, Mitbegründerin und Chefwissenschaftlerin von Sciona, einem Start-up auf dem aufstrebenden Gebiet der persönlichen Genetik. Frühe Studien an den Zellen konzentrierten sich auf Gene, die mit Entzündungen zu tun haben, einer Immunreaktion, die bei den meisten menschlichen Gesundheitsgefahren eine Rolle spielt, seien es nun Herzinfarkte, Diabetes, Autoimmunkrankheiten oder Alterungsprozesse.

Lee berichtet, dass die Erfahrung, mit den Zellen seines Chefs zu experimentieren, einzigartig gewesen sei. "Gewebe von einer Person zu erzeugen, die man kennt, beispielsweise Haare, ist schon ziemlich komisch. Es ist ein Phänomen, das man in der modernen Medizin bislang noch nicht kannte." Persönlich nervös ist er aber auch deshalb nicht, weil er die noch sehr frühen Ergebnisse, deren Interpretation noch aussteht, stets mit Church teilt.

Ein Knackpunkt des Vorhabens ist auch, dass der genetische Bauplan, der in jeder Stammzelle steckt, möglicherweise Informationen enthält, die der Spender und/oder seine Familie gar nicht wissen wollen. Pinker ist sich beispielsweise unsicher, ob er selbst erfahren möchte, ob er eine genetische Variation in sich trägt, die das Risiko von Alzheimer stark erhöht. (bsc)