Das Internet ist nicht immer schuld

Kinder sind im Netz nicht weniger gefährdet als im Offline-Leben, heißt es in einer neuen Studie der Internet Safety Technical Task Force.

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Von
  • David Talbot

Im vergangenen Jahr fand das soziale Netzwerk MySpace heraus, dass sich unter seiner Nutzerschaft bis zu 30.000 in den USA registrierte Sexualstraftäter befinden. Die Generalstaatsanwälte zahlreicher Bundesstaaten reagierten alarmiert und forderten eine technische Lösung für das Problem. "Die Industrie muss Verifikationswerkzeuge entwickeln, mit denen Alter und Identität der Mitglieder in den Social Networks zweifelsfrei festgestellt werden können", hieß es dazu in einem Forderungskatalog. Eine neue Studie der Internet Safety Technical Task Force (ISTTF) in Zusammenarbeit mit dem Berkman Center for internet and Society an der Harvard University kommt nun allerdings zu dem Ergebnis, dass solche Technologien nur wenig helfen, anonyme Sextäter aus den Angeboten herauszuhalten. Hinzu komme, dass die Gefahren, denen Kinder im Netz ausgesetzt seien, nicht schlimmer wirkten als in der realen Welt.

"Unsere Untersuchung fand heraus, dass keine einzelne Technologie und kein Maßnahmenbündel als solches dafür sorgen wird, dass die Sicherheit Minderjähriger im Netz deutlich zunimmt", heißt es in der Studie. Die ISTTF besteht aus 29 Nonprofit-Organisationen, Forschergruppen und Technologieunternehmen und wurde im Auftrag der Generalstaatsanwälte aus 49 US-Bundesstaaten tätig. Auch für die Zukunft sieht sie wenig Handlungsmöglichkeiten: "Hinzu kommt, dass sich das Internet und die Art, wie Minderjährige es nutzen, sich ständig verändert – das gilt auch für die Gemeinschaften, an denen sie teilnehmen und die verfügbaren Technologien."

Zwar gebe es kein einzelnes Altersverifikationssystem, das alle Probleme des Netzes lösen könne, doch stünden entsprechende punktuelle Werkzeuge durchaus bereit. Auch arbeiteten die Social Networking-Anbieter mit den Strafverfolgern bereits intensiv zusammen und würden berichtete Probleme erstaunlich schnell beheben, meint John Palfrey, Juraprofessor an der Harvard University, der die ISTTF-Untersuchung leitete. Mehr als 40 Angebote seien bereits auf dem Markt, von der Altersüberprüfung über den Webfilter bis zum Blockadeprogramme.

Die Achillesverse von Altersverifikationssystemen liege natürlich darin, dass sie überhaupt erst einmal benutzt werden müssten. Eltern könnten ihre Kinder bei Diensten wie "CheckMyAge.com" zwar anmelden, wo entsprechende Daten und ein "digitaler Ausweis" abgelegt würden. Damit ein solcher Dienst funktioniere, müsse das Kind ihn allerdings ständig benutzen und darauf setzen, dass andere, denen es begegnet, die Technik ebenfalls verwendeten.

Die Task Force verniedlicht die Gefahr von Online-Sex-Tätern in ihrem Bericht zwar nicht, sieht Mobbing durch Mitschüler aber derzeit als größeres Problem im Netz an. Hier seien Antworten von Eltern und Schulen gefragt, außerdem eine intensivere Beschäftigung mit der Thematik seitens der Strafverfolger. Onlinerisiken für Jugendliche seien aber insgesamt "nicht radikal anders in ihrer Natur und ihrem Ausmaß" als diejenigen in der realen Welt. "Diejenigen, die draußen das größte Risiko haben, leben auch online gefährlicher", so die ISTTF. "Mobbing und Quälereien, die zumeist von Mitschülern kommen, sind die greifbarsten Bedrohungen, sowohl im Netz als auch außerhalb."

Richard Blumenthal aus Connecticut, einer der Generalstaatsanwälte, die die Studie beauftragt hatten, bewertet die Ergebnisse mit gemischten Gefühlen. "Diese Untersuchung ist ein Schritt nach vorne, um unsere Kinder besser vor Sextätern und ungeeigneten Inhalten in sozialen Netzwerken zu schützen. Gleichzeitig spielt sie die Gefahr, die von ersteren ausgeht, leider herunter. Der Grund dafür scheint die Nutzung veralteter und unpassender Forschungsgrundlagen zu sein." Außerdem kritisierte Blumenthal, dass es an spezifischen Anregungen für passende Technologien fehle, um die Angebote sicherer zu machen.

Bei denen sieht man das allerdings ganz anders. Hemanshu Nigam, Sicherheitschef bei MySpace, schrieb, sein Unternehmen unterschreibe die wichtigsten Erkenntnisse der Studie voll. Die Industrie gehe technisch bereits sehr innovativ vor und Minderjährige unterlägen online komplexen und sehr unterschiedlichen Gefahren, für die es keine einzelne Lösung gebe. "Mit einer einzigen Technologie lassen sich nicht alle spezifischen Risiken ausräumen."

MySpace gleicht inzwischen die Namen seiner Mitglieder mit öffentlich zugänglichen Listen von registrierten US-Sexualstraftätern ab; bei jedem Treffer wird der Zugang gelöscht. Die verwendete Datenbank des Herstellers Sentinel soll Informationen zu rund 600.000 Personen enthalten. "Diese Straftäter haben vollen Zugriff auf das Netz, aber nicht auf MySpace, wo wir die Sentinel-Technik nutzen, um sie aus unserem Angebot zu entfernen." Diese Daten teile man mit den Generalstaatsanwälten aus 50 Bundesstaaten. "MySpace ist führend bei der Implementierung dieser Technologie."

Der Anbieter will es außerdem künftig erschweren, dass Jugendliche und Erwachsene in problematische Kommunikationsabläufe treten. So können Mitglieder unter 18 sich beispielsweise nicht mehr als "Swinger" bezeichnen und die Firma verbietet es Erwachsenen inzwischen, ihr Alter herunterzusetzen, um einen einfacheren Zugriff auf die Profile Minderjähriger zu erhalten. Außerdem wurde es leichter, anstößige Inhalte und problematisches Verhalten zu melden. Andere Social Networking-Anbieter unternahmen ähnliche Schritte.

Die Internet-Industrie scheint dem Thema jedenfalls hohe Priorität einzuräumen. Der ISTTF-Bericht enthält Stellungnahmen von Microsoft, AOL, Facebook, Myspace und dem "Second Life"-Betreiber Linden Lab. Aber auch US-Telekomriesen wie AT&T, Comcast und Verizon beteiligten sich. (bsc)