Die Rückkehr des Lamarckismus?

Zwei neue Studien zeigen, dass körperliche Auswirkungen der Bedingungen, unter denen Muttertiere aufwachsen, an die nächste Generation weitergegeben werden können.

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Von
  • Emily Singer

Veränderungen im Körper, die aufgrund der Umweltbedingungen in der Entwicklungsphase entstehen, können bei Tieren an den Nachwuchs weitergegeben werden. Zu diesem Ergebnis kommen zwei neue Studien. Sollten sich diese Erkenntnisse, die an Ratten und Mäusen gewonnen wurden, auch auf den Menschen übertragen lassen, könnte das dafür sprechen, dass beispielsweise die Auswirkungen einer frühen Misshandlung die Generationen überspringen. Die Untersuchungen untermauern die 200 Jahre alte Evolutionstheorie des Jean-Baptiste de Lamarck, die eigentlich weitgehend verworfen worden war. Der so genannte Lamarckismus besagt, dass Organismen Eigenschaften, die sie sich während ihrer Lebenszeit angeeignet haben, an ihren Nachwuchs weitergeben können.

"Diese Ergebnisse überraschen mich sehr und kommen zudem vollkommen unerwartet", meint Li-Huei Tsai, Neurowissenschaftler am MIT, der die Studien kennt. Eine der Untersuchungen ergab, dass die Verbesserung der Fähigkeit des Gehirns, Nervennetzwerke neu zu knüpfen und ein damit einhergehender Boost für das Gedächtnis bei Mäusen an Jungtiere weitergegeben werden konnte. "Diese Studie ist vermutlich die erste, die zeigt, dass es generationsübergreifende Effekte nicht nur beim Verhalten gibt, sondern auch bei der Plastizität des Gehirns", meint Tsai.

In den vergangenen Jahren fanden Forscher heraus, dass epigenetische Veränderungen, also erbliche Neuerungen, die die DNA-Sequenz selbst nicht verändern, eine wichtige Rolle bei Krebs und anderen Krankheiten spielen. (Die Definition der Epigenetik ist dabei recht variabel – einige Wissenschaftler bezeichnen damit nur spezifische molekulare Mechanismen, die die Genexpression verändern.) Die meisten epigenetischen Studien waren bislang auf den zellulären Kontext beschränkt oder untersuchten die epigenetischen Auswirkungen von Medikamenten oder der Ernährung auf die Frucht im Mutterleib. Die zwei neuen Untersuchungen stellten nun erstmalig fest, dass Umweltveränderungen, die positive wie negative Effekte weitergeben (etwa eine aktive Stimulierung im Frühstadium oder eine frühzeitige Misshandlung), auch vor der Schwangerschaft auftreten können. "Gibt man Müttern Chemikalien, kann das den Nachwuchs und die nächste Generation beeinflussen", erklärt Larry Feig, Neurowissenschaftler an der Tufts University School of Medicine in Boston, der zu den Leitern der ersten Studie gehörte. "In diesem Fall finden die Umweltveränderungen jedoch statt, bevor die Mäuse überhaupt geschlechtsreif waren."

Bei Feigs Untersuchung wurden Mäuse genetisch so verändert, dass sie Gedächtnisprobleme bekamen. Sie wurden dann in einer stimulierenden Umwelt großgezogen – sie erhielten Spielzeuge, konnten sich frei bewegen und sozial interagieren. Das dauerte zwei Wochen während ihrer Jungtierphase. Dadurch verbesserte sich das Gedächtnis der Nager. Das allein war keine neue Erkenntnis, es ist bekannt, dass eine solche positive Umwelt die Gehirnfunktionen verbessern kann. Die Mäuse wurden dann in eine normale Haltung überführt, wuchsen auf und hatten Nachwuchs. Diese nächste Generation zeigte erstaunlicherweise auch ein verbessertes Gedächtnis, obwohl sie noch immer den erblichen genetischen Defekt aufwiesen und niemals einer stimulierenden Umwelt ausgesetzt worden waren.

Die Forscher untersuchten außerdem ein molekulares Korrelat des Gedächtnisses, das man Langzeitpotenzierung (kurz LTP) nennt. Dieser Mechanismus verstärkt Verbindungen zwischen Nervenzellen. Eine stimulierende Umwelt besserte fehlerhaftes LTP bei Mäusen mit Gendefekt aus – diese Veränderung wurde dann auch an den Nachwuchs weitergegeben. Die Ergebnisse blieben sogar vorhanden, wenn die Mäusejungen von Tieren mit Gedächtnisproblemen aufgezogen wurden, die nie die Vorteile von Spielzeugen und frühen sozialen Interaktionen genossen hatten. "Wenn man sich den Nachwuchs ansieht, hat dieser noch immer den Defekt im Protein, aber normales LTP", sagt Feig.

"Wenn sich diese Ergebnisse auf den Menschen übertragen lassen, bedeutet dies, dass die Bildung, die Menschen genießen, nicht nur für ihre Generation wichtig ist, sondern auch für die nächste", gibt Moshe Szyf, Forscher an der McGill University in Montreal, ein entsprechendes Beispiel.

In einer zweiten Studie fanden Wissenschaftler der an der University of Alabama heraus, dass Ratten, die von gestressten Müttern aufgezogen wurden, die ihren Nachwuchs vernachlässigten und misshandelten, spezifische epigenetische Veränderungen in ihrer DNA aufwiesen. Die misshandelten Tiere wuchsen selbst zu schlechten Müttern heran und schienen diese Veränderungen auch an ihren Nachwuchs weiterzugeben.

Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich eine schlechte Mutterschaft durch diese Art der DNA-Veränderung weitergeben lässt – doch diese Veränderungen schienen ganz spezifisch durch mütterliches Verhalten hervorgerufen. Bei der neuen Studie zeigte sich nun, dass das Aufziehen des Nachwuchses gestresster Rattenmütter durch gesunde Ratten die Probleme nur teilweise entfernte. Das lege nahe, dass die Veränderungen nicht durch frühkindliche Erfahrungen hervorgerufen wurden, meint David Sweatt, Neurowissenschaftler an der Hochschule, der die Untersuchung leitete. "Es handelte sich um Eigenschaften, die schon vorhanden waren, als sie geboren wurden."

Die Ergebnisse beider Studien dürften in den nächsten Monaten heiß diskutiert werden und vielleicht auch eine jahrhundertealte Debatte wieder aufleben lassen. "Das ist sehr provokant", meint Lisa Monteggia, Neurowissenschaftlerin am University of Texas Southwestern Medical Center in Dallas. "Das geht zurück auf zwei Denkschulen: Lamarck gegen Darwin."

Im Gegensatz zur natürlichen Auslese, bei der Organismen an ihre Umwelt angepasst geboren werden, um zu überleben, sich fortzupflanzen und diese erfolgreichen Eigenschaften weiterzugeben, sagt der Lamarckismus etwas anderes. Er geht davon aus, dass Tiere während ihrer Lebenszeit angepasste Eigenschaften entwickeln können, wie etwa ein besseres Gedächtnis, und diese dann an ihren Nachwuchs weitergeben. Letztere Theorie wurde verworfen, als Darwins und später Mendels Theorien sich durchsetzten. Doch das Konzept der Lamarckschen Vererbungslehre hat in den letzten Jahren ein Comeback erlebt. Einer der Gründe ist die Beschäftigung der Forschung mit der Epigenetik.

"Ich hatte mit meiner Studie nicht vor, den Neo-Lamarckismus zu untermauern", sagt Sweatt. Die aktuelle Forschung mache diese Vererbungslehre jedoch plausibler als zuvor. "Sie könnte auf molekularen Mechanismen basieren."

Feig räumt zwar ein, dass er es bei seiner Studie mit einem Lamarckschen Phänomen zu tun habe, doch sei Darwin damit nicht vom Tisch. "Die Veränderungen bleiben nämlich nicht ewig vorhanden." Bei seiner Untersuchung verlor der Nachwuchs stimulierter Mäuse die Gedächtnisvorteile nach einigen Monaten.

Sweatt und andere Forscher meinen, dass diese Art der Vererbung wohl häufiger vorkomme, als bislang angenommen. Verbesserte Techniken erlauben inzwischen einen breiteren Blick auf epigenetische Veränderungen, die mit Umwelt und Verhalten in Verbindung stehen. Forscher beginnen damit, die für die Untersuchung genetischer Merkmale von Krankheiten verwendeten DNA-Microarrays einzusetzen, um spezifische Veränderungen zu untersuchen, die so genannten Methylierungen. "Die Veränderungen, die wir dabei sehen, sind nicht nur auf eine kleine Anzahl von Genen beschränkt", sagt Szyf, der mit der Technik epigenetische Merkmale sowie die Krebsentstehung untersucht. "Da werden ganze Schaltkreise verändert."

Die DNA-Sequenzierung, die immer billiger wird, kann zur Untersuchung der DNA-Methylierung ebenfalls verwendet werden. Die Epigenetik benötigt allerdings enorme Mengen an Sequenzierungsdaten, die noch immer sehr teuer sind. "Im Gegensatz zum Genom ist jedes Epigenom je nach Zelltyp unterschiedlich", sagt Sweatt. "Ein Humanepigenomprojekt würde dem Äquivalent von 250 Humangenomprojekten entsprechen, weil es mindestens 250 Zelltypen im Körper gibt." Kostengünstige Sequenzierungsmethoden könnten solche Untersuchungen jedoch bald möglich machen.

Die Mechanismen, die bei diesen Vererbungsmustern ablaufen, sind für die Forschung zum Teil noch ein Mysterium. Feigs Theorie lautet, dass eine stimulierende Umwelt lang anhaltende hormonelle Veränderungen hervorruft: Wird ein Tier schwanger, verändert das Hormon die DNA des Fötus auf eine bestimmte Art, was dann zu einer Verbesserung der Gedächtnisfunktion und des LTP im Jugendalter führt. Einen direkten Beweis dafür hat Feig allerdings noch nicht. Es sei sogar noch unklar, ob diese Veränderungen überhaupt durch epigenetische Mechanismen übertragen werden. (bsc)