Der Albtraum-Flieger

Bei der Boeing 787 Dreamliner, eines der elegantesten Verkehrsflugzeuge aller Zeiten, kämpfen die Ingenieure mit Pannen, Pech und Nieten.

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Von
  • Günter Stauch

Dieses Flugzeug vereint viele versprochene Superlative auf sich: Die Boeing 787 Dreamliner, die erste Neuentwicklung des US-Flugzeugbauers seit anderthalb Jahrzehnten, soll unübertroffen effizient, leise und bequem sein. Schon kurz nach ihrer Vorstellung lagen fast tausend Bestellungen vor. Experten halten die 787 für eines der elegantesten Verkehrsflugzeuge aller Zeiten. Doch in die Firmenchronik von Boeing wird der Dreamliner wohl eher als größtmögliches Fertigungsdesaster eingehen.

Bei ihrer öffentlichen Präsentation im Juli 2007 wurde die Maschine noch gefeiert. Doch nicht einmal zwei Jahre später kam die harte Bauchlandung: Nach der fünften Entwicklungsverzögerung seit Start des Zehn-Milliarden-Dollar-Projekts musste Boeing den für Ende 2008 geplanten Erstflug absagen.

Als neuer Termin ist nun das zweite Quartal 2009 im Gespräch. Schuld an der „Seven-late-Seven“-Misere haben vor allem die kleinsten der mehr als vier Millionen Bauteile: Die Nieten – Oberbegriff für die Tausende Stifte, Bolzen, Schrauben aus Aluminium, Stahl oder Titan – beherrschten über Monate die Statements zerknirschter Boeing-Manager. Bereits im Herbst 2007 hatte CEO Jim McNerney Alarm geschlagen, dass das mangelnde Angebot auf dem Nietenmarkt den Termin für den Jungfernflug gefährde. Die Nietenproduzenten hätten auf den Boom am Flugzeugmarkt viel zu spät reagiert.

Dabei hatte sich Boeings Hauptlieferant Alcoa nach dem 11. September 2001 verhalten wie alle anderen Anbieter auch: Wegen des rasanten Sturzflugs der Luftfahrtbranche entließen sie Zehntausende von Mitarbeitern und machten ganze Werke dicht. Alcoa schickte fast die Hälfte seines Personals nach Hause. Als ab 2005 der neue Airbus A380 sowie Tausende neuer Mittelund Langstreckenjets bestellt wurden, stieg der Bedarf an Nieten ins Astronomische.

Die gebeutelten Unternehmen hatten der rasanten Nachfrage zunächst kaum etwas entgegenzusetzen. Erschwerend kam hinzu, dass beim Rumpf der 787, der erstmals komplett aus Kohlefaser-Kunststoff besteht, kaum konventionelle Nieten verwendet werden können. Das gilt vor allem dann, wenn die Kohlefaser-Außenhaut auf einen Kabinenboden aus hochfestem Titan trifft. Weil Boeing erst in der Schlussrunde der Designphase die Anforderungen für diese speziellen Fügeteile definierte, blieb der Nietenbranche, die schon am Anschlag arbeitete, zu wenig Zeit für die Entwicklung neuer Werkzeugmaschinen.

Da Boeing jedoch unbedingt den Rollout im Sommer 2007 retten wollte, griffen die Marketing-Strategen zu einem beispiellosen Trick. Ahnungslos applaudierten die 15000 Gäste am 8. Juli einem makellos blau-weiß lackierten „Dreamliner One“, der lediglich aus einem leeren Torso mit fehlenden oder provisorisch angebrachten Nieten bestand. Dafür bezahlte Boeing einen hohen Preis: Die Maschine, die nach der in alle Welt übertragenen Show in drei Schichten rund um die Uhr demontiert und von den provisorischen Nieten befreit werden musste, trug bei Nacharbeiten etliche Blessuren davon.

War diese gewagte PR-Aktion schon schlimm genug fürs Renommee, sollte es im Herbst 2008 noch dicker kommen: Bei routinemäßigen Kabinendrucktests entdeckten Prüfer unter anderem, dass die Nietköpfe ein kleines Stück aus dem Rumpf herausstanden – Folge einer zu flachen Bohrung an der Verbindung von Titanund Kohlefaserteilen. US-Medien hatten zuvor zu Recht gemutmaßt, dass „faule Anschlüsse“ bereits bei den Halterungen für die Triebwerke aufgetaucht seien.

Boeing versuchte mit dem Hinweis zu beschwichtigen, dass „nur“ für drei Prozent aller Nieten eine Neuinstallation anstand. Pro Jet entsprach das aber immerhin 8000 bis 10000 Verbindungsteilen (zu den verschiedene Typen siehe Infografik). Alle zwölf der in der Fertigung stehenden Dreamliner mussten mindestens eine Woche lang einem aufwendigen Austausch-Prozedere unterzogen werden.

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Kleine Nieten, große Wirkung

Weniger unterschiedliche Typen von Bolzen, Nieten und Schrauben als sonst halten die 787 zusammen - doch ohne sie geht nichts. (Bild: Alcoa)

Auch wenn die Nieten in diesem Fall nicht die Sicherheit, sondern nur die Langlebigkeit der Zelle beeinträchtigten: Abermals war der weltgrößte Flugzeughersteller blamiert. „Bei weiteren Verzögerungen droht der Marke Boeing große Gefahr“, warnte US-Luftfahrt-Analyst Howard Rubel. Große Unruhe herrschte in Internet-Foren darüber, ob der Konzern bei dem neuen Projekt überhaupt noch etwas geregelt bekommt. Im Mittelpunkt stand das blanke Entsetzen darüber, dass Boeings Techniker unfähig sind, Löcher tief genug zu bohren – oder die Bohrungen so schlampig ausführen, dass Tausende von Nietköpfen überstehen. Solche handwerklichen Fehler, hieß es, dürfe sich ein Unternehmen von Weltrang nicht erlauben. Die interne Qualitätskontrolle, schimpfte ein anonymer Boeing-Mitarbeiter, habe kläglich versagt.

Erfahrene Mechaniker monieren zudem, Boeing setze immer noch zu sehr auf „dumme“ Befestigungen, statt sogenannte „Intelligent Fasteners“ zu verwenden. Solche Verbindungsteile besitzen eigene Aktuatoren, mit denen sie sich selbst öffnen und verschließen können, wenn sie von außen elektronisch angesteuert werden. Auf diese Weise lassen sich etwa Wartungsdeckel, an denen Mechaniker mitunter eine halbe Stunde herumschrauben müssen, in Sekunden öffnen.

Ehemalige Mitarbeiter machten für die Missstände die Ausdünnung der Stammbelegschaft sowie das exzessive Outsourcing verantwortlich. Dies habe zu einem Verlust des jahrzehntelang bewährten Know-hows geführt. In der Tat: Fast drei Viertel aller Flugzeugteile stammen von 17 externen Firmen in zehn Ländern – die Flügel aus Japan, die Triebwerke aus Großbritannien, die Bremsen aus Frankreich, die Frachttüren aus Schweden, das Höhenleitwerk aus Italien, die Kabinenbeleuchtung aus Deutschland.

Viele der Subunternehmen hatten unerwartet große Probleme, die Qualitätsanforderungen Boeings zu erfüllen. Manche konnten nicht in den gewünschten Mengen und innerhalb der vereinbarten Fristen liefern. Einige Lieferanten waren nicht in der Lage, in Eigenverantwortung komplexe Bauteile zu entwickeln. Der Traum vom Weltflugzeug war ausgeträumt. „Dieses Produktionsprinzip ist grandios gescheitert“, urteilt Branchenkenner Jens Flottau.

Zudem sickerte nach und nach durch: Das fehlerhafte Zusammenfügen von Baugruppen war nicht nur auf unqualifiziertes Personal bei den Zulieferern zurückzuführen. Ausgerechnet Boeings eigene Leute instruierten die Ingenieure von Fremdfirmen falsch. Angaben etwa über Niettyp oder die erforderliche Länge stimmten nicht. In manchen Dokumenten tauchten zum Teil widersprüchliche Instruktionen auf. In anderen Spezifikationen blieb es beispielsweise unklar, wie eine an der Bohröffnung notwendige Schrägung ausgeführt werden musste.

Das amerikanische Produktions-Chaos verfolgte der europäische Konkurrent auffallend ruhig. Erzrivale Airbus hat auch keinerlei Anlass zur Schadenfreude, weil ihm der Großflieger A380 zeitweise völlig aus dem Ruder gelaufen war. Probleme bei der Verkabelung verzögerten die Auslieferung der ersten Maschine um mehr als zwei Jahre. (nbo)