Wettrüsten im Wasser

Wenn am Sonntag die Schwimm-WM in Rom startet, wird das Kopf-an-Kopf-Rennen der Sportausrüster um den schnellsten Schwimmanzug neue Weltrekorde produzieren – dank Hightechmaterialien, Raumfahrtmethoden und veralteten Tests des Weltschwimmverbandes.

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Von
  • Niels Boeing

Dieser Text ist der Print-Ausgabe 08/2009 von Technologie Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie ältere Ausgaben, hier online portokostenfrei bestellt werden.

Sportausrüster liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den schnellsten Schwimmanzug – mit einem Millionenaufwand und mit Methoden aus der Raumfahrt.

Als Britta Steffen nach 100 Metern Freistil am Beckenrand anschlägt, ist die Sensation perfekt: 52,85 Sekunden. Weltrekord – einfach so im Vorlauf. Drei Tage später wird die Berlinerin ihn im Finale der deutschen Schwimm-Meisterschaften Ende Juni sogar um drei Zehntelsekunden unterbieten. "Das ist das krasseste Teil, was ich je getragen habe", gibt Steffen später zu Protokoll.

Das "krasse Teil" ist der neue Schwimmanzug "Hydrofoil" von Adidas. "Wie von einem anderen Stern" fühle er sich an, sagt Steffen und hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn in die Entwicklung der Anzüge geht nun sogar Know-how aus der Raumfahrttechnik ein. Die ausgeklügelten Hightech-Produkte haben ein Wettrüsten im Wasser ausgelöst, das gerade wieder einmal den Weltschwimmverband Fina erschüttert.

"Angefangen hat dieses Rennen zwischen den Olympischen Spielen von Atlanta und Sydney, als die ersten Ganzkörperanzüge aufkamen", sagt Jan-Anders Månson. Der Materialwissenschaftler von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne hat die Tests durchgeführt, anhand derer die Fina Anfang Juli über die Zulassung der verschiedenen Anzüge für dieses Jahr entschied. Doch richtig glücklich mit seinen Ergebnissen wirkt Månson nicht. Denn die Zulassungskriterien der Fina sind entweder sehr allgemein gehalten – die Anzüge dürfen nicht "anstößig" sein und müssen Füße, Hände und Hals freilassen. Oder sie können in den Tests nicht überprüft werden.

Die Fina verbietet zum Beispiel ein sogenanntes Airtrapping. Das geschieht durch spezielle Luftkanäle in den Anzügen, in denen während des Schwimmens Luft eingefangen wird, um dem Körper zusätzlichen Auftrieb zu geben. "Wir testen den Auftrieb der Anzüge statisch, nicht in der tatsächlichen Bewegung", sagt Månson. "Das Airtrapping können Sie aber nur überprüfen, wenn der Anzug getragen wird."

Die eigentliche Geheimwaffe der Schwimmausrüster ist jedoch das Material der Anzüge – und das wird bislang von den Zulassungskriterien bis auf eine Gewichtsbeschränkung gar nicht reguliert. Es macht den Anzug zu einer Art Orthese, einem Hilfsmittel des menschlichen Körpers für die Bewegung im Wasser, für die ihn die Evolution nicht optimiert hat.

Dank Computersimulationen und Spezialkunststoffen lassen sich einige Defizite des Menschen aber ausgleichen. Dafür treiben die Hersteller einen gewaltigen Aufwand. Der britische Schwimmausrüster Speedo etwa unterzog für die Entwicklung seines 2008 herausgekommenen Anzugs "LZR Racer" zunächst 400 Athleten einem Körperscanning. Aus diesen Daten wurden Musterkörper von Hochleistungsschwimmern generiert, deren Gestalt in eine Modellierungssoftware der US-Firma Ansys eingegeben wurden. Diese berechnete den Strömungswiderstand entlang des gestreckten Körpers nach dem Start und nach Bahnwenden. Brustpartie und Oberschenkel weisen den höchsten Widerstand auf. An diesen Stellen wird dann das Gewebe des Anzugs zusätzlich mit reibungsarmem Polyurethan beschichtet.

Die Elastizität des Gewebes selbst geht indirekt ebenfalls in die Berechnungen ein. Es soll die Muskulatur des Schwimmers zusammenhalten und, indem es kurzzeitig Bewegungsenergie aufnimmt, unterstützen. Diese Wirkungen würden bei der Berechnung der idealen Schnittform mit berücksichtigt, erklärt Hervé Morvan, Physiker an der Universität Nottingham, der für Speedo die Fluid-Dynamik berechnet hat. Bereits seit 2000 sind solche Simulationen in der Entwicklung von Ganzkörper-Schwimmanzügen Standard. Computermodelle und Gewebe werden aber ständig verfeinert, um die Kunsthäute noch schneller zu machen.

Speedo ließ den Reibungswiderstand des LZR Racer zusätzlich zu Strömungstests im Wasser sogar in einem Windkanal der Nasa untersuchen. "Mehrere Millionen Pfund" hatte sich Speedo die Entwicklung des LZR Racer nach den Worten von Vizepräsident David Robinson kosten lassen. Ergebnis: Dessen Strömungswiderstand war um fünf Prozent geringer als beim Vorgängermodell.

Sportlich zahlte sich die Investition bei den Olympischen Spielen in Peking aus: 94 Prozent aller Goldmedaillen wurden im LZR Racer erschwommen, darunter 23 Weltrekorde. Natürlich war auch Wunderschwimmer Michael Phelps (acht Goldmedaillen) in die Hightech-Haut von Speedo gehüllt.

Kein Wunder, dass Adidas plötzlich in Zugzwang war, zumal sich unter den von dem Sportartikel-Hersteller ausgestatteten Athleten Unmut breit machte. Nach Peking begann man im Adidas Innovation Team, die Antwort auf den LZR Racer zu entwickeln. Die Schwimmer Britta Steffen und Helge Meeuw probierten die verschiedenen Prototypen aus, und die dabei gemachten Videoaufnahmen wurden immer wieder auf verbleibende Verbesserungspotenziale hin ausgewertet. Außerdem waren externe Partner beteiligt wie das Institut für Angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig, das einen Strömungskanal betreibt.

Entscheidend dürfte aber die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Polyurethan-Hersteller Huntsman gewesen sein. 2006 meldete das Unternehmen ein Patent auf eine neue Beschichtung von Textilfasern mit einem wasserabweisenden thermoplastischen Polyurethan an. Zwar nutzt auch Speedo Polyurethan, und der äußerst vielseitige Kunststoff ist weit verbreitet. Die Kunst besteht jedoch darin, die molekularen Grundbausteine mit Zusatzstoffen feinzutunen. Eine wasserabweisende Wirkung lässt sich etwa mit fluorhaltigen Substanzen erreichen, wie sie auch in entsprechenden Nanobeschichtungen eingesetzt werden.

Offenbar hat Huntsman hier einen entscheidenden Entwicklungssprung geschafft. "Das neue Material ist noch mal einen Zahn schärfer", schwärmt Regine Eichhorn, Managerin von Britta Steffen. Weder Adidas noch Huntsman wollen sich, unter Berufung auf Geheimhaltungsvereinbarungen, zu Details äußern.

Der Erfolg des Hydrofoil-Anzugs könnte sich aber als Pyrrhussieg erweisen. Direkt nach ihrem ersten Weltrekord hatte Britta Steffen gewarnt: "Mit diesen Anzügen geht der Schwimmsport kaputt." Managerin Eichhorn fürchtet, dass die Schwimmtechnik eines Athleten an Bedeutung verlieren werde. Stattdessen könnten die Anzüge eine Entwicklung auslösen, die Muskelberge wichtiger macht. Denn eine gute Lage im Wasser ist mit dem Hydrofoil oder dem LZR Racer schon fast garantiert.

Die Zulassung der neuen Anzüge durch die Fina ist bis zum 31. Dezember dieses Jahres befristet. Danach soll neu entschieden werden. Helge Meeuw hat bereits einen Vorschlag gemacht, wie es 2010 weitergehen soll: "Männer in Badehosen, die Frauen im Badeanzug. Aber das wird nicht passieren." Denn wie Fina-Prüfer Månson lakonisch meint: "Sport ist ein Business." (bsc)