Reine Meinungsmache

Einen Satelliten ins All zu schicken ist einfacher, als das Verhalten von Menschengruppen vorherzusagen und erfolgreich zu steuern. Behauptet jedenfalls der Philosoph und Sozialphysiker Rainer Hegselmann

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Lesezeit: 17 Min.
Von
  • Ralf Grötker
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Meinungen machen Geschichte. Zum Beispiel an jenem Donnerstag, als Günter Schabowski gegen Ende der wöchentlichen Pressekonferenz noch eine Meldung zu verlesen hat: die neuen Reiseverordnungen. Nichts Spektakuläres: Privatreisen ins Ausland bedürfen weiterhin der Beantragung. Genehmigungen in Form eines Vermerkes im Pass sollen "kurzfristig" erteilt werden. Pünktlich um sieben Uhr erklärt Schabowski die Pressekonferenz für beendet. Bereits um fünf nach sieben verkünden internationale Agenturen: "DDR öffnet ihre Grenzen". Nichts davon hatte Schabowski gesagt. Und dennoch: Um viertel vor elf melden die "Tagesthemen", dass Augenzeugen die ersten Grenzgänger auf der Bornholmer Brücke gesichtet hätten. Von da an gibt es kein Halten mehr. Zehntausende machen sich noch in dieser Nacht auf den Weg. Es ist der 9. November 1989. Ein Missverständnis hatte zum Fall der Berliner Mauer geführt. Ein Missverständnis, das wie ein Lauffeuer die Runde macht – ein Meinungssturm.

Mit der unkontrollierbaren Macht der öffentlichen Meinung bekam es 1995 auch die Firma Shell zu tun. Nachdem Greenpeace auf die geplante Versenkung der Brent Spar aufmerksam gemacht und die Ölplattform besetzt hatte, geriet die Meinung des Volkes in Bewegung. Sogar die Junge Union und der Präsident des evangelischen Kirchentages Ernst Benda riefen zum Boykott. Der Umsatz von Shell ging um bis zu dreißig Prozent zurück, Tankstellen wurden zum Opfer von Brandanschlägen und Zerstörungen. Der Konzern sah sich zum Einlenken gezwungen - obwohl der Sache nach niemals unstrittig bewiesen wurde, dass die Entsorgung der Ölplattform auf dem Land wirklich so viel umweltfreundlicher war als die geplante Versenkung.

Meinungen sind mächtig - ob sie wahr sind oder falsch. Meinungen treten in Form von politischen Einstellungen auf, oder als Vorliebe für ein Produkt. Meinungen machen, was sie wollen. Über die Gesetze, die das Spiel der Meinungen bestimmen, wissen wir wenig. "Es ist eben verhältnismäßig leicht, einen Satelliten zu den äußeren Planeten zu schicken. Jedenfalls sehr viel leichter, als zum Beispiel eine vernünftige Arbeitsmarktpolitik zu machen", sagt Rainer Hegselmann. Rainer Hegselmann leitet an der Universität Bayreuth den von ihm aufgebauten Studiengang "Philosophy and Economics" und befasst sich mit der Dynamik von Meinungsbildungsprozessen. Eine Computersimulation, die er gemeinsam mit seinem langjährigen Mitstreiter, dem Bremer Mathematiker und Ökonomen Ulrich Krause, entwickelt hat, soll zeigen, wie die Mechanismen der Meinungsbildung funktionieren.