Reine Meinungsmache

Seite 2: Reine Meinungsmache

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Die Regeln des Spiels sind einfach. Es gibt eine Gruppe von Spielfiguren. Jede Spielfigur hat eine bestimmte, per Zufallsgenerator erzeugte Meinung zum Thema, das zur Diskussion steht: etwa die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Ereignis eintreten wird. Der jeweils nächste Zug einer Spielfigur wird ebenso durch die bisherige eigene Meinung bestimmt wie durch die Meinungen der anderen Figuren. Dabei werden nur diejenigen fremden Meinungen, die sich innerhalb eines bestimmten Abstandes zur eigenen Meinung der Figur befinden, im Revisionsprozess berücksichtigt. Wie groß dieser Abstand oder das "Vertrauensintervall" ist, kann der Spielleiter variabel einstellen. Der Prozess der Meinungserneuerung wird dadurch simuliert, dass die Figuren schlicht den Durchschnitt aus ihrer eigenen Meinung und den fremden Meinungen innerhalb des Vertrauensintervalls bilden. Mit ihren revidierten Meinungen gehen die Figuren dann in die nächste Runde der Simulation.

Das erste Ergebnis, das die Experimente hervorgebracht haben, ist, dass das Karussell der Meinungen nach einer gewissen Weile auch wieder zum Stillstand kommt. Das Meinungsbild wird stabil. Immer. "Und das ist richtig beweisbar." Rainer Hegselmann sagt das nicht ohne Stolz.

Grafiken auf Hegselmanns Notebook veranschaulichen die Resultate einer solchen Simulation. Eine der Grafiken stellt das "Gebirge der Meinungen" dar. An der unteren Bildkante, entlang der horizontalen Achse, ist ein zerklüftetes Feld zu sehen. Nach oben hin, mit steigenden Werten auf der Vertikalen, differenziert sich die Ansicht: Zwei Bergrücken bilden sich heraus. Sie enden abrupt in einer Ebene. Eingekeilt zwischen den beiden Bergzügen erhebt sich ein steiler, schmaler Zacken. Der Zacken, das ist die große Koalition - hervorgegangen aus den beiden befehdeten Lagern, den Bergrücken.

Das Gebirge der Meinungen zeigt, wie sich die Größe des "Vertrauensintervalls" auf den Endzustand der Meinungslandschaft auswirkt. Haben die Spieler wenig Vertrauen zueinander und berücksichtigen ihre gegenseitigen Meinungen nur geringfügig, bleibt es, nach Stabilisierung der Dynamik, bei der anfänglich per Zufallsgenerator erzeugten Meinungspluralität – dem gleichmäßig zerklüfteten Feld. Erlaubt man den Spielern, die Meinungen anderer bis zu einem gewissen Grad in ihre Revisionsprozesse einzubeziehen, zeichnet sich eine Spaltung in zwei Meinungsmassive ab, deren Ausläufer schließlich so weit voneinander entfernt liegen, dass sie sich gegenseitig nicht mehr beeinflussen können. Billigt man den Spielfiguren aber ein wenig mehr Vertrauen zueinander zu, entsteht etwas Neues. Und zwar nicht allmählich, sondern ganz plötzlich. Konsens bildet sich: der steile Zacken.

COMPUTERSPIELE ...

Aber was sagt das Modell über die Wirklichkeit aus - über Ethikräte, politische Prozesse, über Mode, Einschaltquoten und den Erfolg von Markenprodukten? "Das Ganze", sagt Rainer Hegselmann, "beruht auf Alltagsempirie - auf der Erfahrung, dass zumindest in bestimmten Situationen und für bestimmte Phasen ein Mechanismus am Werk zu sein scheint, den wir ganz gut so beschreiben können: Ich bin mir nicht völlig sicher mit dem, was ich meine. Und ich traue denjenigen, die mit ihren Meinungen nicht zu entfernt liegen von dem, was ich selbst meine."

Wie es unter diesen Ausgangsbedingungen weitergeht, kann man auch selbst ganz gut im eigenen Alltag beobachten. Man wird zum Beispiel zum Fürsprecher für die Position eines anderen, streicht hervor, dass ein Redner von guten Absichten geleitet ist. "All das", betont Rainer Hegselmann, "kann man beschreiben als einen Versuch, an der Schraube ‚Vertrauensintervall‘ zu drehen." Wenn man einen Konsens erzielen will, muss man versuchen, möglichst viele von denen, die am Prozess der Meinungsbildung beteiligt sind, in den Bereich des Vertrauensintervalls zu ziehen. Oder man verfolgt die umgekehrte Strategie und steuert auf eine Polarisierung zu. "Union wirft SPD Wortbruch vor". "SPD wirft Westerwelle Führungsschwäche vor". "Westerwelle wirft Union falschen Patriotismusbegriff vor". "Merkel geht zum Angriff über". Das Vertrauensintervall zu verkleinern ist wirklich nicht so schwierig.

Natürlich funktionieren wir in der realen Welt nicht immer so, wie es die Simulation beschreibt. Aber das Modell, erklärt Rainer Hegselmann, "ist gut als ein Startpunkt: Man kann es ziemlich gut, ziemlich schnell in seiner einfachsten Variante begreifen." Irgendetwas total verstehen. Und dann an einer weiteren Schraube drehen - sodass man einen Pfad vollständigen Verständnisses hat. Das ist der Plan.

Die Simulationsspiele, glaubt Rainer Hegselmann, sind so etwas wie eine Brille, mit der man in dem großen Wirrwarr Wirklichkeit bestimmte Mechanismen ausmachen kann und auf diese Weise ein Gefühl dafür bekommt, mit was für Effekten man rechnen muss. Dennoch - es sind lediglich Spiele. Keines der Modelle wurde bisher in psychologischen Experimenten bestätigt. Sollte einem das wirklich völlig egal sein? Rainer Hegselmann macht diese Frage fast ein wenig verlegen. "Wissen Sie: In meinem Hinterkopf ist die Idee, dass eine bestimmte Sorte von Laborexperimenten uns gar nicht weiterhilft." Denn was sollten solche Experimente schon beweisen - selbst wenn alles gut geht? Hegselmann seufzt. "Man kann in Laborexperimenten alles Mögliche isolieren. Aber mit der Übertragbarkeit auf die Realität hapert es dann trotzdem."

Dennoch bleibt es verwunderlich, dass so vieles in der Physik so verdammt gut funktioniert. Denn auch in der physikalischen Welt gibt es unzählige verschiedene Parameter: Gravitation. Luftwiderstand. Und dann ist da noch die Reibung. "Aber die kriegen das hin, mit diesen Flugzeugen. Obwohl sich alles zigfach überlagert. Irgendetwas ist viel, viel einfacher in den Naturwissenschaften."