Umprogrammierung des Immunsystems
Mit einer Spritze heilten Wissenschaftler von der Gesellschaft für Biotechnologie neugeborene zuckerkranke Mäuse von Typ-I-Diabetes. Das Verfahren birgt jedoch ein noch viel größeres Potenzial.
- Edda Grabar
Das Wort "Durchbruch" möchte Jan Buer nicht so gern in den Mund nehmen. Aber grundlegend sei die Arbeit schon, die seine Arbeitsgruppe in dem wichtigsten Fachmagazin für die Zuckerkrankheit "Diabetes" veröffentlicht haben. Die Wissenschaftler von der Gesellschaft für Biotechnologie (GBF) aus Braunschweig haben geschafft, woran etliche Wissenschaftler mit rauchenden Köpfen forschen, andere für bislang unmöglich hielten – und worauf Ärzte und vor allem etliche Millionen Patienten sehnsüchtig warten: Mit einer Spritze heilten sie neugeborene zuckerkranke Mäuse von ihrem Typ-I-Diabetes.
Fantastisch, werden jetzt einige gratulieren. Kein Zuckermessen, keine täglichen Spritzen, keine ständigen Kontrolluntersuchungen mehr. Doch: Viel beachtlicher noch als das Ergebnis ist die Methode, die die Wissenschaftler um Buer einsetzten: Typ-I-Diabetes hat nichts mit zu viel und zu süßem Leben zu tun. Es ist vielmehr eine Autoimmunerkrankung. Bereits in jungen Lebensjahren gerät das körpereigene Abwehrsystem außer Kontrolle und greift plötzlich die Zellen an, die durch ihre Insulinfreisetzung den Zuckerspiegel im Blut regulieren. Es zerstört sie, als wären es schädliche Erreger. Den Braunschweigern aber ist es gelungen, das Immunsystem ihrer Mäuse umzuprogrammieren. "Unter bestimmten Umständen kann es sich an Stoffe gewöhnen, die es normalerweise bekämpfen würde", erklärt die GBF-Wissenschaftlerin Dunja Bruder.
Diese "Umstände" nennen Experten Immuntoleranz. Wissenschaftler aus den verschiedensten Forschungsgebieten untersuchen das Phänomen. Denn gleich ob Diabetes Typ-I, rheumatoide Athritis oder Multiple Sklerose – jeder dieser Krankheiten liegt genau der gegenteilige Effekt zu Grunde: ein Abwehrsystem, das eigene Köperzellen eben nicht mehr akzeptiert, und einen Schwelbrand an Nerven, Gelenken oder Organen entfacht. Sollte sich das Verfahren auch beim Menschen als wirkungsvoll erweisen, hätten die Forscher nicht nur einen Schlüssel zur Diabetes-Behandlung gefunden. Auch gegen einige andere Autoimmun-Erkrankungen, für die es nur lindernde, aber keine heilenden Therapieansätze gibt, hätten Ärzte ein Werkzeug in der Hand.
"Dass die Körperabwehr lernen kann, weiß man schon lange", sagt Buer, Seit einigen Jahren kenne man auch die Zellen, die an dem Lernprozess beteiligt sind. Eine solche Gewöhnung aber erfolgreich anzustoßen, daran scheiterten die Forscher bislang. Ihnen fehlte der entscheidenden Schalter. Genau den aber haben die Braunschweiger "durch eine Kombination von Forschung, Glück und Zufall", so Buer, gefunden.
Seit Jahren schon untersuchen er und seine Mitarbeiter die Immunabwehr an Mäusen. Da die kleinen Nager gewöhnlich nicht zuckerkrank werden, verhalfen die Braunschweiger Wissenschaftler ihnen mit einem molekularbiologischen Trick zum Diabetes. Sie pflanzten den Mausemännchen ein Grippevirus-Protein in die Zellen, die den Zuckerspiegel kontrollieren. Und schickten sie zu Mäusinnen, die Abwehrzellen in sich trugen, die genau dieses fremde Protein bekämpfen. Das Resultat: Ein Teil ihrer Nachkommen erkrankte an Diabetes, weil die Insulin-produzierenden Zellen von der Körperabwehr erkannt und zerstört wurden. Ähnliche Mechanismen nimmt man auch beim Typ-I-Diabetikern an. Nur, dass hier kein fremdes Protein für den Angriff des Immunsystems sorgt, sondern vermutlich das Insulin selbst.
Die Kontrolle, wen oder was der Körper bekämpfen soll, liegt jedoch nicht bei den angreifenden Zellen, sondern bei so genannten dendritischen Zellen in den Lymphknoten. "Diese Zellen können dämpfend oder stimulieren auf das Immunsystem wirken", erklärt Dunja Bruder. Erkennen die mäßigenden Zellen einen Fremdstoff als körpereigen an, unterbinden sie die Körperabwehr. Andernfalls wird der vermeindliche Feind mithilfe der stimulierenden Zellen erst richtig attackiert.
Um die beiden Zelltypen unterscheiden zu können, lagerten in den Kühlschränken der Braunschweiger noch so genannte Antikörpern – das Mittel der Wahl, um ganz bestimmte Körperzellen gezielt anzusteuern. "Wir hatten die Mäuse und wir hatten die Antikörper." Von so pragmatischen Ansätzen ließen sich Buer und Bruder inspirieren. "Alles andere ergab sich von selbst", sagt er. Die Forscher koppelten an einen Antikörper exakt das Grippe-Protein, das bei den Mäusen die selbstzerstörerischen Vorgänge auslöst, und steuerten damit die mäßigenden dendritischen Zellen an. "Um ihnen das Protein zu zeigen", wie Buer sich ausdrückt. Und siehe da: Das Immunsystem lernte. Die Attacken auf die eigenen Körperzellen wurden eingestellt. Die Mäuse entwickelten keine Zuckerkrankheit. "Dass wir so einfach und schnell zu einem Ergebnis kamen, hat uns dann selbst ein wenig überrascht", so Buer.
Die Forschung an Tieren lässt sich zwar nicht so einfach auf Menschen übertragen. "Man benötigt erstens einen anderen Antikörper und zweitens muss man den dendritischen Zellen das Protein zeigen, das die Krankheit beim Menschen auslöst – vermutlich eben das Insulin", schränkt Buer selbst ein. Doch auch unter Diabetes-Experten findet die Arbeit Anerkennung. "Die Methode ist neu und viel versprechend", so Jochen Seißler vom Deutschen Diabetes Zentrum in Düsseldorf. Die Arbeit sei ein erster Schritt für die Entwicklung eines Impfstoffes gegen Typ-1-Diabetes. Allerdings müsse man das Verfahren noch an anderen Tieren testen, "um mögliche Nebenwirkungen auszuschließen oder zu klären", so Seissler. Erst dann sei der Mensch an der Reihe. Vielmehr jedoch zählt auch für den Diabetes-Arzt, dass die Braunschweiger mit den Untersuchungen zeigen konnten, dass "dendritische Zellen das Potenzial besitzen, vor Autoimmunerkrankungen zu schützen."
Von Edda Grabar (wst)