Frieden für die Körperabwehr

Braunschweiger Forscher haben die Bremse des Immunsystems entdeckt. Nun hoffen sie, dass ihre Entdeckung Ansätze für Medikamente gegen chronische Entzündungskrankheiten wie Rheuma oder multiple Sklerose bietet.

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Von
  • Edda Grabar

Die menschliche oder auch tierische Körperabwehr ist eine regelrechte Verteidigungsarmee: Fresszellen, T-Zellen und B-Zellen kreisen Viren oder Bakterien systematisch ein und vernichten sie dann mit furioser Energie. Nach getaner Arbeit muss sie sich wieder zurückziehen. Wo kein Feind mehr ist, kann man schließlich auch nicht siegen.

„Wie das Immunsystem angreift, dass versteht man recht gut“, sagt Jan Buer, Arzt für Infektionskrankheiten an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und Leiter der Arbeitsgruppe für mukosale Immunologie an der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung (GBF) in Braunschweig. Der Rückzug des Immunsystems jedoch hat den Experten bislang Rätsel aufgegeben.

Unter Buers Ägide suchten die Wissenschaftler der GBF nach einem Schalter, der den Angreiferzellen die weiße Fahne zeigt. Wiebke Hansen war erfolgreich: In der jüngsten Ausgabe des Journals of Immunolgy beschreibt 35-jährige Wissenschaftlerin ein Protein, das die Abwehr bremst und den Friedensprozess einleitet.

Der Fund dürfte so manchem Immunologen die Schweißperlen auf die Stirn treiben. Aus zwei Gründen: „Dieses Feld ist heiß umforscht“, sagt Buer. Seit Jahren suchen Experten nach Abwehrbremse – und eine ist nun entdeckt. Zudem suchen Mediziner händeringend nach neuen Ansatzpunkten für Medikamente, mit denen sie die Körperabwehr in Schach halten können.

Denn das Immunsystem ist eine vertrackte Angelegenheit. Für gewöhnlich arbeitet es reibungslos, verteidigt den Körper gegen eine schier unüberblickbare Zahl von Keimen, lernt ein Leben lang dazu und vergisst nicht, welcher Eindringling gut und welcher böse ist. Doch bei über 60 Erkrankungen gerät dieses hochkomplexe System außer Kontrolle, verwechselt eigenes Gewebe und ganze Organe mit einem Feind und setzt sie unter „friendly fire".

Wie viele Menschen davon betroffen sind, ist kaum abzuschätzen. Schuppenflechte, Asthma, Diabetes oder Rheuma gehören ebenso zu den Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose und eine bestimmte Form der Hepatitis. Keine von ihnen ist wirklich heilbar. In den meisten Fällen lassen sich die Leiden mit Medikamenten kontrollieren, einige Patienten jedoch ertragen schwersten Entzündungen, manche sterben daran.

Ein Mittel, um die überschießende Abwehr abzuschalten, wäre deshalb ein Segen. Das Tor dazu könnten die Braunschweiger mit ihrer Entdeckung endlich aufgestoßen haben. GPR 83 heißt der Hoffnungsträger: ein Protein, über das kaum etwas bekannt ist und das sich auf der Oberfläche gerade derjenigen Zellen befindet, die gewöhnlich Bakterien und Viren den Gar ausmachen. Diese so genannten regulatorischen T-Zellen kennen die Wissenschaftler seit einigen Jahren. Sie hemmen die Aktivitäten ihrer kämpfenden Pendants. Wie sie das aber machen, war bislang unklar.

Systematisch durchforsteten die GBF-Forscher daher die Zellmembran der regulatorischen T-Zellen und fanden einen ersten Ansatz, den sie jedoch wieder aufgeben mussten, bis sie auf GPR 83 stießen. „So ist eben Forschung“, meint Hansen.

Dabei verliefen auch die ersten Versuche mit dem Protein gar nicht so verheißungsvoll. Hansen überführte das Gen, das GPR 83 bildet, in gewöhnliche T-Zellen von Mäusen, gab sie ins Reagenzglas und wartete. Für gewöhnlich reagieren Immunzellen nämlich auch unter solch „gläsernen“ Bedingungen miteinander.

„Doch es passierte nichts“, sagt sie. Deshalb ging sie einen Schritt weit und spritzte die veränderten T-Zellen einigen Mäusen. Die Tiere blieben, wie sie waren, und auch ihr Abwehrsystem zeigte sich gänzlich unbeeindruckt. Hansen gab sich noch immer nicht geschlagen.

Sie suchte weiter und wurde schließlich fündig: In einem weiteren Versuch injizierte sie ihre mit GPR 83 angereicherten Zellen Nagern, die bereits an einer schweren Hautentzündung litten. „Erst wenn die Mäuse tatsächlich erkrankt waren, wurden die manipulierten T-Zellen aktiv – dann aber richtig“, erzählt sie.

Das Protein GPR 83 selbst gehört zur Familie der Rezeptoren. Wie kleine Antennen sitzen die auf der Zellmembran und nehmen ihre Umgebung wahr. Sobald ein passender Gegenspieler auftaucht, dockt er an. Dieser Schubs von außen löst in den Zellen umfangreiche Umbauprozesse aus. „Vermutlich“, so Jan Buer, „wird GPR 83 durch einen Rückkopplungsmechanismus aktiviert, der von den Entzündungen selbst ausgeht.“ Dort werde ein Stoff gebildet, der an GPR 83 bindet.

Welcher das ist, wissen die Wissenschaftler bisher nicht. Doch die Veränderungen sind weit reichender, als sie annahmen: Die aggressiven T-Zellen geben nicht nur den Kampf auf und hemmen ihre Partner. „Vielmehr konnten wir beobachten, dass sich unter ihrem Einfluss auch die Zahl der friedfertigen Zellen an dem Entzündungsort erhöht - damit die Reaktionen des Immunsystems nicht überschießen“, erklärt Buer.

Genau diese Selbstkontrolle aber scheint bei Autoimmunerkrankungen nicht mehr zu funktionieren. Die Ursache ist bislang unklar: Genetische Veranlagung könnten ebenso wie Infektionen dafür verantwortlich sein. Die Entdeckung der Braunschweiger würde diese Theorien stützen. Ein Fehler in GPR 83 selbst oder in dem Faktor, der daran bindet, könnte die Aktivierung der regulatorischen T-Zellen verhindern. „Das kann durchaus erst durch eine Infektion ausgelöst werden“, sagt Jan Buer.

„Von einem Wirkstoff sind wir noch Jahre entfernt“, schränkt Wiebke Hansen allerdings ein. Auch bleiben noch einige Zweifel. „Die Beobachtung ist sehr interessant, aber es gibt da noch ein paar Dinge zu berücksichtigen“, sagt Harald von Boehmer, der wohl führende deutsche Immunologe von der Harvard Medical School in Boston. Bislang seien die Bedingungen, unter denen GPR 83 arbeitet, noch nicht geklärt. So weiß noch niemand genau, was im Körper den molekularen Schalter umlegt und unter welchen Umständen dies geschieht.

Hinzu kommt, dass die Braunschweiger mit ihrer Entdeckung genau in einen schwelenden Streit zwischen den Immunologen stoßen: Locken die regulatorischen T-Zellen die anderen friedfertigen molekularen Mitstreiter an oder wandeln sich die kriegerisch gestimmten Abwehrzellen unter dem Einfluss ihrer regulatorischen Partner um? „Das sollte man aber weiter verfolgen, um weitere relevante Mechanismen zu finden,“ meint von Boehmer.

Da gibt Jan Buer seinem ehemaligen Chef recht. Woher die regulatorischen T-Zellen kommen, könne man mit diesem Experiment nicht herausfinden. Aber dann spricht doch der Arzt in ihm, wenn er sagt: „Wenn wir einen Ansatz gefunden haben sollten, chronische Entzündungen oder Autoimmunerkrankungen wirkungsvoll zu behandeln, ist mir herzlich egal, wie diese T-Zellen entstanden sind.“ (nbo)