Japan auf dem Weg zur „Ubiquitous Economy“

In seinem neuen Weißbuch beschreibt Japans Kommunikationsministerium die Folgen des allgegenwärtigen Internets auf die Gesellschaft. Westliche Unternehmen nutzen das Land bereits als Freilandlabor für ihre mobilen Internetauftritte.

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Von
  • Martin Kölling

Als Japans Regierung 2001 versprach, das damalige Internet-Entwicklungsland in nur fünf Jahren zur führenden Breitbandnation zu machen, rümpften einige Experten die Nase. Doch bei der Vorstellung des heute veröffentlichten „Weißbuchs für Informations- und Kommunikationstechnik“ (engl. Zusammenfassung) stellt Tomoyoshi Inoue vom Innen- und Kommunikationsministerium fest: „Bei der Nutzung des Breitbandinternets haben wir unser Ziel grundsätzlich erreicht.“

Geht man nach dem Titel von Japans Internetfibel, steigt die zweitgrößte Nation sogar bereits in die nächste Stufe der menschlichen Evolution ein: die „ubiquitous Economy“, eine Gesellschaft, die auf der Allgegenwärtigkeit des Internets basiert.

Und tatsächlich ist die Verschmelzung zwischen dem Internetzugang über Handy und Computer in keiner großen Industrienation außer Südkorea so weit fortgeschritten wie in Japan. Laut dem Weißbuch haben im vergangenen Jahr 85 von 127 Millionen Japanern das Internet benutzt, davon 48 Millionen sowohl mit dem Computer als auch mit dem Handy. 19 Millionen nutzen gar nur den mobilen Alleskönner für E-Mails und Webrecherche, lediglich 16 Millionen allein den Computer.

Breitbandverbindungen dominieren dabei sowohl im festen wie im mobilen Internet. Im festen Internet gibt es 14,5 Millionen DSL-Anschlüsse mit Datentransferraten von bis zu 50 Megabit pro Sekunde, 5,5 Millionen Glasfaser-Verbindungen, die je nach Anbieter von maximal 100 Megabit (Standard) bis zu einem Gigabit pro Sekunde übertragen können, und dazu noch 3,3 Millionen leistungsstarke Fernsehkabelanschlüsse.

Die meisten Kunden nutzen dabei Daten-Flatrates, zusätzlich oft Internet-Telefon und manchmal noch Fernsehen und Video-on-Demand. Mobil gibt es derzeit 52 Millionen Handys der superschnellen dritten Generation, die teilweise wie UMTS in Deutschland auf dem W-CDMA-Standard basieren – von Platzhirsch NTT Docomo und Softbank Mobile, ehemals Vodafone Japan – oder wie KDDIs AU auf dem nicht kompatiblen CDMA-1x-Standard des US-Unternehmens Qualcomm. Dazu kommen

  • a) die Aufrüstung der Handys durch kontaktlose SmartCards zu elektronischen Geldbörsen und Kreditkarten sowie durch GPS zu Ortungsgeräten
  • b) die rasante Verbreitung von RFID-Chips (Radio Frequency Identification), von denen kleine Datenmengen auf kurze Distanz per Funk abgerufen werden können – der Markt dieser Chips verdoppelte sich 2005 auf 85 Millionen Stück – und
  • c) das noch rasantere Wachstum von Biometrie-Produkten, durch die die Identitätskontrolle auf ein höheres Niveau gehoben werden soll. Der Umsatz mit Produkten dieser Art verzehnfachte sich in Japan 2005 im Vorjahresvergleich auf 21 Milliarden Yen (145 Millionen Euro).

„Durch den Wandel der Informations- und Kommunikationstechnik wandelt sich auch der Lifestyle“, urteilt Inoue, „dies erleichtert die Entstehung neuer Märkte und Arbeitsplätze, aber führt auch zum Schrumpfen bestehender Märkte und Veränderungen der Unternehmensstrukturen.“

Als einen der wichtigsten Trends betont Japans IT-Weißbuch, dass in der neuen „ubiquitären“ Wirtschaft auch Nischengeschmäcker effizient organisiert werden und so einen lukrativen Markt bilden. Als Beispiel dient den Japanern die auch dort erfolgreiche Online-Buchhandlung Amazon, die interaktive Merkmale wie Buchrezensionen durch Kunden als Vermarktungsinstrument mit einsetzt. Amazon erzielt so ein Drittel der Umsätze mit kaum nachgefragten Büchern, die klassische Buchhandlungen nicht vorrätig haben und erst recht nicht besprechen können.

Auch in Japans Musikindustrie führt dieses Phänomen zu einer rapiden Diversifizierung der Musikkäufe, stellt das Weißbuch fest. Erzielten die 100 meistgekauften Lieder in den Oricon Charts – Japans Musik-Ranking – 1995 noch 51 Prozent der Verkäufe, waren es zehn Jahre später nur noch 28 Prozent.

Insgesamt nutzen bereits 60 Prozent aller Japaner das Internet als Informationsmedium vor Kaufentscheidungen, vor allem zum Preisvergleich. Das Internet schafft dabei mehr Transparenz im früher oft schwer überschaubaren Markt. Dabei gilt: Je mehr Preise die Kunden verglichen haben, desto größer ist die Zufriedenheit nach dem Kauf. Die zunehmende Interaktivität des Internets durch Blogs und spezielle Netzwerke sind dabei Trends, in denen sich Japan nicht von anderen Nationen unterscheidet.

Die wachsende Bedeutung des Internets haben auch die Unternehmen begriffen. Selbst als die Japan AG in der Krise ihre Werbetats drastisch eindampfte, gab sie mehr für Online-Anzeigen aus. Nun wächst die Wirtschaft wieder. Und gleich explodierte der virtuelle Kundenfang 2005 gegenüber dem Vorjahr um 55 Prozent auf 281 Milliarden Yen (2 Milliarden Euro).

Als einen der Megatrends in Japan identifiziert das Weißbuch das Zusammenwachsen von Fernsehen und Internet. Schon seit einigen Jahren konkurrieren laut dem Weißbuch acht „Triple-Play-Dienste“, die Telefon, Breitbandinternetzugang sowie Fernsehen und Video-On-Demand zu einem Produkt verbinden.

Beim preiswertesten Anbieter, Yahoo BB!, dem Tochterunternehmen des IT-Investors Softbank, der Vodafone gerade Japans drittgrößtes Mobiltelefonnetz abgekauft hat, startet die Rund-um-Versorgung bei 4189 Yen (28,60 Euro) für ein Appartment und bei 7234 Yen (49,50 Euro) für ein Einfamilienhaus. Enthalten sind 41 TV-Kanäle, Satellitenfernsehen und 5000 Videos-on-Demand. Das Ministerium sieht in dieser Fusion eine Chance, Japans Kulturindustrie neben Autos und Elektronikprodukten zu einer wichtigen Exportindustrie auszubauen. „Dies wird auch dazu beitragen, Japans Fähigkeit zu verstärken, kulturelle und andere Informationen in die Welt zu schicken“, schreiben die Autoren.

Richtig Zugkraft gewinnt dieser Traum durch die Eroberung des Alltags durch das Westentascheninternet via Handys. Die kleinen Alleskönner vermögen schon tausende Songs und zig Minuten Video zu speichern – oder terrestrisches Fernsehen zu empfangen. In Kinderhand - ausgestattet mit GPS - erleichtern sie den Eltern die Ortung des Nachwuchses (solche Dienste gibt es bereits). Schon längst wird ein Großteil des privaten Aktienhandels übers Handy abgewickelt.

Und KDDIs Musikdownload-Dienst fürs Handy „Chaku uta“ ist in Japan weit beliebter als iTunes, obwohl ein Download doppelt bis dreimal so viel kostet wie bei Apples virtuellem Musikgeschäft. In den eineinhalb Jahren seit der Gründung von Chaku Uta wurden 50 Millionen Songs auf Handys geladen. Bei diesen Angeboten ist es kein Wunder, dass Japans Millionenmassen an Pendlern in den U- und S-Bahnen nicht mehr Zeitung, Mangas oder Bücher lesen, sondern auf ihren gar nicht mehr so kleinen Handy-Displays E-Mail und News studieren, Spielen oder TV-Nachrichten und Zeichentrickfilmchen gucken.

Westliche Unternehmen wie die Lufthansa nutzen Japan wegen seiner Vorreiterrolle im mobilen Internet als riesiges Freilandlabor für die internationalen Auftritte im mobilen Internet. Schon vor rund vier Monaten brachte die Lufthansa ihre Handy-Online-Seite in Japan Online, während Deutschland erst kurz vor der WM folgte. Da gibt es Michael Ballack als Hintergrundbild zum Runterladen aufs Handy, Umfragen zum Thema „Wer wird Weltmeister?“ und das Video-Spiel für die langen Zugfahrten namens „Tooor!“ „Japan ist ein ideales Versuchslabor“, sagt Peter Babucke, zuständiger Marketingmanager von Lufthansa Japan. „Wir können hier Daten und Erfahrungen für den Auftritt im mobilen Internet in Deutschland sammeln.“

Zwar lassen sich nicht alle Produkte wegen unterschiedlicher Standards und anderem Nutzerverhalten eins zu eins übertragen. Aber mit der Verbreitung von UMTS in Europa zieht Deutschland zumindest technisch mit Japan gleich. Die Lehre der Lufthansa: Die Unterhaltungsinhalte und die Möglichkeit der direkten Kommunikation führen zu einer hohen Kundenbindung. Durchschnittlich drei Mal täglich besuchen die bisher 1300 aktiven Mitglieder die Seite täglich. Bis zum Jahresende sollen es 10.000 Kunden werden.

Erleichtert wird die Verbreitung der Botschaft durch einen in die Handys eingebauten Strichcode-Leser. In Japan ist der Name allerdings ein wenig Irre führend, denn hier werden kleine Textbotschaften in einem kleinen Quadrat kodiert. Auf Visitenkarten verstecken sich so zum Beispiel Name, Telefonnummer und E-Mail oder auf Postern oder Werbematerialien die Internetadresse einer Firma. Mit nur zwei Klicks kann das Handy die Visitenkarten-Daten ins Adressbuch des Handys kopieren oder den Nutzer auf die Homepage leiten: Erster Klick, Code fotografieren. Zweiter Klick, Aktion. Das Eintippen von Daten oder Adressen entfällt. Dank der Makrolinse des Objektivs können die Handys ganz dicht an den Code gehalten werden.

Auf den Lufthansa-Code ist Babucke besonders stolz. Statt in schwarz-weiß ist die mobile Homepage in blau-weiß verschlüsselt (siehe Abbildung). Und darauf prangt das Markenzeichen der Lufthansa, der orange Kranich. „Wir sind die ersten, die einen zweifarbigen Barcode verwenden. Der ist fast schon dreidimensional.“ (nbo)