"Rock'n'Roll wird niemals sterben - die Wikipedia auch nicht."

Wikipedia-Gründer Jimmy "Jimbo" Wales über Vorwürfe gegen die Online-Enzyklopädie, den Qualitätsfortschritt der vergangenen Jahre und die mangelnde Fähigkeit vieler Nutzer, Informationen kritisch zu lesen.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Susan Nasr

Wikipedia, das Online-Lexikon, in dem jeder schreiben und editieren kann, ist inzwischen sechs Jahre alt. Fast 1,3 Millionen Artikel in englischer Sprache wurden inzwischen verfasst. Im amerikanischen Cambridge trafen sich Anfang des Monats nun Macher und Nutzer des Internet-Großprojektes, um sich zu beraten, wie die Enzyklopädie noch besser organisiert werden kann - und künftig noch genauer. Der Internet-Experte Lawrence Lessig bezeichnete die Konferenz, genannt "Wikimania 2006", gar als "Woodstock des 21. Jahrhunderts".

Technology Review bat Jimmy "Jimbo" Wales, den Gründer der Wikipedia, um eine Stellungnahme zum aktuellen Stand des Projektes. Seine Kernbotschaft: Das Online-Lexikon wirke heute so ähnlich wie der Rock'n'Roll in den Fünfzigerjahren - viele Leute seien nur deshalb skeptisch, weil sie es für unkonventionell hielten. Die Wikipedia sei außerdem längst noch nicht perfekt - doch mit etwas Hilfe durch Programmierer, Administratoren und die Autoren selbst werde sie immer besser, so Wales. "Unser Projekt wird in der Welt der Lexika einmal so wichtig wie Elvis im Rock’n’Roll.“ Aber eigentlich ist es das schon.

Technology Review: Larry Sanger, einer ihrer ersten Zuarbeiter bei Wikipedia, beschrieb Einträge in einem Wiki einmal als "nicht unbedingt der Wahrheit entsprechend", aber immerhin als eine Art "empfangene Wahrheit", ein Konsens zu einem Thema. Würden Sie dem zustimmen und halten Sie das nicht für problematisch?

Jimmy Wales: Ich würde sagen, dass man diese "empfangene Wahrheit" bis jetzt noch nie klar definiert hat. Wenn denkende, vernünftige Individuen darüber diskutieren, wie man Dinge so präsentiert, dass sie für eine große Anzahl von Menschen befriedigend sind, akademische Standards verwendet und Autoren vorgibt, ihre Quellen zu nennen, ist das Endresultat nicht besonders anders als das, was man von traditionellen Nachschlagewerken her kennt.

TR: Doch manchmal entsprechen Wikipedia-Einträge noch nicht einmal dieser "empfangenen Wahrheit". Sie sind dann auch aus Sicht einer durch Konsens entstandenen Meinung falsch.

Wales: Die Wikipedia ist immer "work in progress". Während des Editierprozesses schleichen sich Fehler ein - manchmal auch, bevor sie korrigiert werden können. Solche Fehler kommen immer bei großen Vorhaben vor, in denen Menschen zusammenarbeiten. Ich denke auch, dass viele Leute eine falsche Vorstellung davon haben, wie akkurat traditionelle Lexika sind. In einer Studie, die letzten Dezember in der wissenschaftlichen Zeitschrift "Nature" erschien, schauten sich Forscher ernsthaft nach Fehlern in Lexika um und fanden ungefähr drei pro Artikel - und zwar in der Encyclopedia Britannica.

Die wirkliche Frage ist doch: Schafft es unser Wikipedia-Prozess, Fehler zu minimieren? Ich fände einmal eine Studie interessant, die 100 zufällige WIkipedia-Artikel in ihrem heutigen Zustand mit dem von vor zwei, drei und vier Jahren vergleicht, um zu schauen, ob unsere Richtung stimmt. Ich gehe davon aus, dass man dann dramatische Verbesserungen in nahezu jedem Fall feststellen wird. Wenn man doch Texte findet, die vor einem Jahr besser waren, wissen wir, dass etwas in unserem System schief gelaufen ist.

TR: Die "Nature"-Studie fand aber auch heraus, dass die Wikipedia durchschnittlich vier Fehler pro Artikel aufweist, verglichen mit drei in der Britannica. Warum ist die Wikipedia noch öfter fehlerbehaftet als konventionelle Lexika?

Wales: Weil sie neu ist. Wenn Sie sich die besten Artikel in der Wikipedia ansehen, solche, an denen am meisten gearbeitet wurde, die die verschiedensten Autoren und den gesündesten Dialog abbekamen, werden Sie feststellen, dass sie wesentlich besser sind als Einträge in konventionellen Lexika. In Bereichen, in denen wir noch nicht so gut sind, verbessern wir uns.

TR: Was sagen Sie Lehrern und Professoren, die ihren Schülern und Studenten nicht erlauben, aus der Wikipedia zu zitieren, weil sie keine bekannte und verlässliche Quelle sei?

Wales: In den Fünfzigerjahren haben Eltern ihren Kindern doch auch verboten, Elvis Presley zu hören. Es ist einfach lächerlich, Studenten zu sagen, sie dürften die Wikipedia nicht nutzen. Sie tun es ja doch. Professoren sollten wieder ihre Verantwortung wahrnehmen, den Studenten beizubringen, mit der Welt auf eine erwachsene Art und Weise umzugehen. Sie sollten ihnen beibringen, Quellen kritisch zu würdigen. Sie sollten lehren, wie die Wikipedia entsteht und ihre Stärken und Schwächen erläutern. Und Sie sollten den Studenten sagen, wann sie ein Lexikon nutzen sollten und wann Primärquellen besser sind.

Lexika können einem schnell akkurate Hintergrundinformationen liefern. Wenn Sie einen Roman über den Zweiten Weltkrieg lesen und da ein Begriff auftaucht, den sie nicht kennen, greifen Sie zu einer Enzyklopädie und schauen es nach. Müssen Sie eine Seminararbeit zu dem Begriff schreiben, sind weder Britannica noch Wikipedia die richtige Quelle. Den Lexikon-Eintrag kann man als Einstieg lesen, aber dann muss man seine Hausaufgaben machen.

Und außerdem: Rock'n'Roll wird niemals sterben – die Wikipedia auch nicht. Wenn man seinen Studenten also sagt, sie nicht zu benutzen, hilft man ihnen damit überhaupt nicht.

TR: Wie wollen Sie die Wikipedia verändern, um eine höhere Artikel-Qualität sicherzustellen?

Wales: Sehr bald werden wir in der deutschen Wikipedia mit so genannten "stabilen Versionen" experimentieren. Autoren, denen wir vertrauen, werden dann schauen, ob ein Artikel akkurat ist und eine Peer-Review erfolgte, um ihn dann auf einen Status zu setzen, in dem er nicht mehr verändert werden kann. Wie dieser Review-Prozess auszusehen hat und wie hoch die Qualität sein soll, muss die Community noch herausfinden. Andere Versionen eines Textes werden aber immer noch zum Editieren bereitstehen.

Der Grund, warum wir das tun wollen, ist folgender: Besonders bei Artikeln, bei denen es häufig zu Vandalismus kommt, existiert eine gute Version, die immer wieder zerstört wird. Mit der stabilen Version können wir unsere beste Variante hervorholen.

TR: Wikipedia errichtet eine technologische Barriere zwischen seinen Inhalten und den Nutzern. Es gibt Menschen mit viel Wissen, die nichts beitragen können, weil sie keinen Computer benutzen, sich das Internet nicht leisten können oder nicht verstehen, wie die Software funktioniert; auch manche Leser leiden unter diesen Problemen. Wenn Ihr Ziel ist, ein qualitativ hochwertiges Lexikon zu schaffen, das jedem zur Verfügung steht - wie wollen sie dieses Problem lösen?

Wales: Sie haben natürlich völlig Recht. Unsere Mission war schon immer, eine frei lizenzierte Enzyklopädie für jeden, wirklich jeden Menschen anzubieten - in jeder Sprache. Wenn Sie einen Breitbandanschluss besitzen und Englisch oder eine ganze Reihe europäischer Sprachen sprechen, erledigen wir hier bereits einen guten Job. Bei Menschen ohne Computer oder Sprachkenntnisse haben wir aber noch nichts erreicht.

Des weiteren: Es gibt tatsächlich eine technische Barriere - viele Leute werden von der Software eingeschüchtert. Wenn man auf "Edit" klickt, sieht man zwar meistens menschliche Sätze, aber manchmal auch Formatierungscodes.

Auch außerhalb der technischen Seite gibt es Einstiegshürden. Manche Leute haben schon allein damit Probleme, überhaupt mitzumachen. Ich habe schon Leute getroffen, die sagten, jeder Wikipedia-Nutzer klinge so schrecklich klug. Sie wollten etwas beitragen, meinten aber, nicht genug zu wissen. In manchen Fällen wissen sie dann tatsächlich nicht genug, in einigen aber durchaus - und dann sollten sie mitmachen.

TR: Wie kann die Wikipedia Verzerrungen und Tendenzen vorbeugen? Sei es nun im Streit zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit oder westlichen Problemen gegenüber globalen?

Wales: Es gibt in der Tat systemimmanente Befangenheiten - die haben aber weniger mit einseitigen Artikeln zu tun, sondern damit, was uns interessiert. So gibt es beispielsweise einen fantastischen Artikel über den USB-Standard, aber der über die Kongo-Kriege ist nicht besonders gut - wir sind eben Internet-Freaks. Das Problem verschwindet langsam, je größer und bekannter wir werden. Wir haben uns aus der Free-Software-Bewegung entwickelt und haben inzwischen die unterschiedlichsten Autoren. Um diesen Kurs weiter zu gehen, machen wir unsere Software einfacher. Wir arbeiten außerdem an Projekten innerhalb der Community, um systematische Verzerrungen zu erkennen und dann Hilfe herbeizuholen. Es gibt aber keine magische Lösung des Problems. Wir müssen einfach immer die richtigen Leute finden.

TR: Warum glauben Sie, dass manche Leute Wikipedia nicht vertrauen? Und was kann man tun, sie vom Gegenteil zu überzeugen?

Wales: Es gibt zwei Arten von Menschen, die der Wikipedia misstrauen - Leute mit vernünftigen Gründen und Leute mit unvernünftigen. Die Gruppe der Unvernünftigen werden wir mit der Zeit überzeugen. Die Vernünftigen nutzen Wikipedia, finden sie nützlich und wertvoll, sind aber vorsichtig bei dem, was sie da sehen. Wirkt irgendetwas merkwürdig oder hat einen Vermerk, dass die Neutralität angezweifelt wird, sind sie sehr zurückhaltend. Das ist aber auch völlig okay. Doch jeder, der sagt, man solle die Wikipedia nicht nutzen, weil sie im Internet erstellt wird, liegt völlig falsch.

Übersetzung: Ben Schwan. (nbo)