Die Zukunftsvision des Vernor Vinge

Der Sciencefiction-Autor und Mathematiker Vernor Vinge hat in seinen Büchern viele technische Entwicklungen der letzten 25 Jahre vorweggenommen. In dem neuen Roman "Rainbows End" entwirft er eine Welt, in der sich virtuelle Realitäten unentwirrbar mixen.

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Von
  • Stewart Brand

Vernor Vinge hat seinen neuen Roman, "Rainbows End", ausgerechnet den "kognitiven Internet-Werkzeugen“ Wikipedia, Google und eBay gewidmet - "und allen anderen Diensten, die unser Leben verändern, heute und in Zukunft". Kein Wunder also, dass er sich in dem in diesen Tagen erscheinenden Werk damit beschäftigt, wie sich diese Technologien in den nächsten zwei Jahrzehnten weiterentwickeln werden. Denn die Veröffentlichung von "Rainbows End" ist nicht nur ein Literaturereignis. Es stellt sich im selben Atemzug die Frage, ob Vinge mit seinem Buch auch den Lauf der Technologiegeschichte beeinflussen könnte. Schließlich gelang ihm das bereits einmal.

Viele Programmierer, Designer und Marketingleute lesen Sciencefiction-Bücher nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch, um Eingebungen zu bekommen. Ein paar dieser Ideen erreichen dann tatsächlich auch die Gegenwart. So füllte William Gibson in seinem Buch "Neuromancer" 1984 den Begriff "Cyberspace" mit Leben und inspirierte eine ganze Generation früher Internet-Nutzer, diese "freiwillige Halluzination", wie Gibson es nannte, zu schaffen, die dann das World Wide Web wurde. Und Neal Stephensons VR-Universum "Metaverse" aus seinem Roman "Snow Crash" (1992) inspirierte virtuelle Multiplayer-Welten wie "Second Life" massiv.

Die ersten fiktionalen Vorstellungen einer umfassenden virtuellen Welt stammen bereits aus dem Jahr 1981, als Vernor Vinge "True Names" veröffentlichte, in dem es um eine geheime Parallelwelt namens "The Other Plane" geht. 1995 schrieb Kevin Kelly in "Wired", viele Online-Veteranen würden "True Names" als grundlegenden Einfluss nennen, der ihre Ideen zur Netzpolitik geformt habe. "Es wurde zu einem Kultklassiker unter Hackern und hat nahezu alles vorausgesehen - von interaktiven Internet-Spielen bis hin zu 'Neuromancer'."

1984 und 1986 schlug Vinge wieder zu. In zwei Büchern, die später zusammen als "Across Realtime"-Reihe publiziert wurden, sah der Autor eine Welt voraus, in der der technologische Fortschritt derart schnell vor sich ging, dass am Ende die Menschheit kaum wieder erkennbar war. Diese Metamorphose nannte Vinge "Die Singularität" - und sie inspirierte allerlei Visionäre zum Erträumen der Technologien des 21. Jahrhunderts.

Im Gegensatz zu seinen jüngsten Weltraumopern "A Fire upon the Deep" und "A Deepness in the Sky" ist Vinges neuestes Werk relativ kurz. "Rainbows End" ist eine Art Schelmenroman und spielt in einem San Diego des Jahres 2025, das Vinge bereits in seiner Story "Fast Times at Fairmont High" vor vier Jahren erwähnte. Im Buch ist die Realwelt aller Protagonisten mit zahlreichen privaten und öffentlichen virtuellen Welten verknüpft. "Suche und Analyse" sind darin die Kernkompetenzen von Jung und Alt - und das Herz der Wirtschaft dieser Zeit. Die Crux: Es bleibt unklar, wer was wie weiß und wie sich dieses Wissen tatsächlich manifestiert.

Dadurch, dass die Geschichte in der nahen Zukunft spielt, kann Vinge auf seiner echten, eigenen Karriere als Mathematik- und Informatikprofessor an der San Diego State University aufbauen, die er mit der Beratung von Regierungsorganisationen und Firmen sowie dem Schreiben von Sciencefiction-Romanen auflockert. "Rainbows End" hat so seinen Spaß mit diesen Sphären - und erteilt ihnen gleichzeitig Ratschläge.

Im Buch decken ultravernetzte Spione einen Plot auf, der aus einem abgeschotteten Bioforschungslabor an der University of California in San Diego zu stammen scheint. Forscher arbeiten dort an einer subtilen Methode zur Gedankenkontrolle. Die Story an der Universität beinhaltet Abenteuer in "Dampftunneln", einen schwer ausgenutzten Studenten und lebenslange universitäre Fehden (schlecht, wenn man ewig lebt). Googles bekanntes "Book Search"-Projekt wird in "Rainbows End" sowohl positiv erwähnt als auch durch den Kakao gezogen. Warum sollte die gesamte intellektuelle Vergangenheit der Menschheit auch nicht genauso massiv indiziert, organisiert, verlinkt und durchsuchbar gemacht werden, wie dies Informationen, die von vorne herein digital waren, bereits sind? Dumm nur, dass die Bücher beim Scannen im Roman zerstört werden (das echte Google-Projekt ist da vorsichtiger).

Analysen zur nationalen Sicherheit werden in "Rainbows End" von ganzen Schwärmen frei beweglicher "Analysten" durchgeführt, die Tausend Vermutungen gleichzeitig verfolgen können, sich aber auch miteinander "streiten". Die Überwachung erfolgt gänzlich durch die Bevölkerung, die sie sich zum Hobby auserkoren hat. Militärische Maßnahmen finden nur noch in Form von Signalaufklärung statt.

Vinge hat seinen Spaß mit den Konventionen von Sciencefiction und Fantasy. Natürlich hängt die ganze Welt am seidenen Faden - irgendein Bösewicht könnte ja die zahlreichen neuen Cyber-, Bio-, Kogno- und Nanowerkzeuge in eine Massenvernichtungswaffe verwandeln. Und selbst die coolsten neuen Technologien machen Ärger. Natürlich kann man in dieser neuen Welt eine neue Sprache im "Just in Time"-Verfahren erlernen - blöderweise ist der Lernprozess aber derart umfänglich, dass man möglicherweise darin stecken bleibt. Natürlich lebt man länger, aber andere Krankheiten tauchen auf, die sich nur schwer heilen lassen - und manche Alte werden erfolgreicher verjüngt als andere.

Selbsterstellte "Fan-Fiction" ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil von Vinges Welt. Riesige Multiplayer-Spiele sind in der Welt von "Rainbows End" die dominante Form der Unterhaltung. Tausende Fans arbeiten in so genannten "Belief Circles" zusammen, die ihre Fantasien nicht nur auf eine zunehmend schwächer werdende Realwelt projizieren können, sondern ihre fiktionalen Welten auch gegeneinander erkenntnistheoretisch antreten lassen. Helden aus Welten wie der von Terry Pratchet kämpfen dann mit Pokémon-artigen Wesen - online und offline.

Vinges technologische Spekulationen gehören zum Schönsten in dem Buch. Seine persönliche Verbindung zum Internet, die bis zu dessen Anfangstagen zurückreicht, macht es ihm möglich, interessante Ideen zu entwickeln. Wie wäre es zum Beispiel mit einem "Secure Hardware Environment", das enorm zuverlässig und unhackbar ist und als Grundlage aller virtuellen Erfahrungen dient? Oder Zertifizierungsbehörden, die den Nutzern ermöglichen, die Wahrheit über die vielen falschen Identitäten in der Online-Welt zu erfahren?

Vinge schreibt über solche Netzwerke mit Verve. Der spannendste Charakter in "Rainbows End" ist aber ein versteckter - eine rätselhafte Figur namens "Rabbit", die in der virtuellen Welt kraft- und humorvoll auftritt. Ist "Rabbit" ein KI-Wesen? Falls ja, was hat das zu bedeuten? Vinge plant bereits eine Fortsetzung seines Romans, um diese Frage zu klären.

Stewart Brand ist MitbegrĂĽnder der traditionsreichen Online-Gemeinschaft WELL und Global Business Network und begrĂĽndete den "Whole Earth Catalog".

Das Buch: Vernor Vinge, "Rainbows End", Tor Books 2006

Ăśbersetzung: Ben Schwan (nbo)