Verräterische Zellen
FingerabdrĂĽcke lassen sich vermeiden, aber gegen das Hinterlassen von DNA-Spuren sind Verbrecher weitgehend machtlos. Mit biotechnischen Verfahren lassen sie sich auswerten und mit gespeicherten Daten vergleichen
- Gordon Bolduan
„Das ist das Schlimmste, was einem passieren kann“, sagt Ingo Hardt und zieht lange an seiner Zigarette der Marke Moon. Er spricht von dem Verbrechen, das am 10. Januar das 22 449 Einwohner zählende Städtchen Coswig bei Dresden erschütterte: Gegen 18 Uhr überholt ein Mann in einem silbergrauen Wagen mit Stufenheck ein elfjähriges Mädchen. Er hält an, rennt auf das Kind zu, zwingt es mit vorgehaltenem Messer einzusteigen, entführt es. Der Polizeibericht fährt fort mit „sexuellen Handlungen im Auto“.
Den Tatort kennt die eigens formierte Sonderkommission bis heute nicht. Sie weiß aber, dass der Täter bereits vergangenen September in Dresden-Hellerau ein neunjähriges Mädchen missbrauchte: Die Beamten fanden Spuren seines Erbmaterials (Deoxyribonucleic Acid, DNA) an beiden Mädchen. Wegen der Schwere der Verbrechen, die durch die DNA-Analyse bewiesene Verbindung und die erkennbaren Ortskenntnisse des Täters griffen die Ermittler nochmals zur genetischen Lupe. Am 19. Mai ließen sie sich vom Amtsgericht Dresden eine DNA-Reihenanalyse für die Gebiete Coswig und Dresden- Hellerau genehmigen. In den kommenden Tagen entscheiden die Kommissare, ob sie die Suche nach der DNA des zwischen 25 und 45 Jahren alten, 1,65 bis 1,85 Meter großen Sexualtäters auf rund 120 000 Personen ausweiten – einmalig in der deutschen Kriminalgeschichte.
Mit der DNA-Analyse steht der modernen Kriminalistik ein mächtiges Werkzeug zur Verfügung. 1988 überführte der genetische Fingerabdruck erstmals einen Mörder in Berlin, seit November 2005 ist auch der DNA-Reihentest in der Strafprozessordnung (StPO) verankert. Statt mit Fingerabdrücken, durch Handschuhe leicht vermeidbar, oder mit Phantombildern, falls der Täter beobachtet wurde, arbeiten die Fahnder hier mit Spuren von Erbgut, das in Form von 23 Chromosomen- Paaren in nahezu jeder am Tatort verbliebenen Zelle zu finden ist. Dass irgendetwas zurückbleibt, lässt sich kaum vermeiden: Zigarettenkippen, Türklinken oder benutzte Gläser sind dankbare Spurensammler; und selbst wenn der Täter Handschuhe trägt: allein von seinem Kopf und Hals rieseln reichlich Hautzellen und Haare.
Ob in den Fällen O. J. Simpson oder Rudolph Mooshammer, bei Massentests wie derzeit in Dresden oder beim alltäglichen Vergleich von Tatort-Spuren mit den gespeicherten DNA-Profilen bekannter Krimineller – das Vorgehen ist immer dasselbe: Die Kriminaltechniker untersuchen bestimmte Abschnitte auf der DNA. Sie nennen diese short tandem repeats (STR), weil sich dort eine charakterisierende Basenkombination wiederholt, wie Lenker, Rahmenstange und Sattel bei einem Tandem. Der Clou: STR-Systeme tragen keine den Wissenschaftlern bekannte Erbinformation, identifizieren den Geber aber dennoch eindeutig, da ihre Länge – die Anzahl der Wiederholungen – bei jedem Menschen unterschiedlich ist. Zwar kommt es vor, dass zwei Menschen in einem bestimmten STR-System die gleiche Wiederholungszahl haben, jedoch ist eine Übereinstimmung bei acht STR-Systemen außer bei eineiigen Zwillingen statistisch fast unmöglich.
Ingo Hardt ist 39 Jahre alt und 1,72 Meter groß. Seit 24 Jahren lebt er in Coswig. Seine Stammkneipe, in der er gerade an einem Warsteiner nippt, liegt nur wenige hundert Meter entfernt von der Verschleppungsstelle in der Beethovenstraße, einer kleinen Seitenstraße hinter den Bahnschienen. Wie 1943 weitere männliche Coswiger reihte sich Hardt am 15./16 Juli in die Schlange vor dem Alten Sozialrathaus ein, in das die Polizei 3108 Bürger zur freiwilligen Proben-Abgabe bestellt hatte.
Keine Sekunde habe er gezögert: „Ich will, dass der Kerl so schnell wie möglich aus dem Verkehr gezogen wird.“ Also ließ Hardt artig seinen Ausweis kopieren, unterschrieb die schriftliche Einverständniserklärung, wie es der Paragraf 81 Absatz h der StPO vorschreibt. Zwei geübte Wischer, mehr brauchte eine Polizeibeamtin nicht, um ihm mit einem Wattestab Zellen aus der Mundschleimhaut zu kratzen.
Luftdicht verschlossen in einem dünnen Plastikröhrchen gelangt die Probe von Hardt und anderen Freiwilligen in die Hände eines Mannes, der im Landeskriminalamt die polizeilichen DNA-Untersuchungen für ganz Sachsen verantwortet.
Seinen Namen möchte er nicht veröffentlicht sehen – zu viele Täter habe er durch seine Arbeit schon in den Knast gebracht, sagt er, und deutet auf die Buntstift-Zeichnungen von Kinderhand hinter seinem Schreibtisch. Die LKA-Kollegen nennen den promovierten Molekularbiologen, der wegen der Familie auf die Karriere in der Wissenschaft verzichtete, liebevoll Doc.
Der zweifache Vater gebietet über 15 Mitarbeiter und sechs Laborräume. „Mischspuren machen uns das Leben schwer“, sagt Doc und begründet damit, warum die Auswertung der Coswiger Proben räumlich streng getrennt von anderen DNAAnalysen vor sich geht: Die hohe Menge an Erbmaterial in den Personenproben könne wertvolle Spuren von anderen Tatorten bis zur Unkenntlichkeit verunreinigen.
Deswegen arbeiten hinter der Tür mit der Aufschrift „Kein Zutritt“ überwiegend Robotersysteme. Das erste isoliert die DNA. Seine Elektromotoren summen, wenn seine Spitzen hin und her fahren. Nur Mikroliter spezieller Substanzen spritzt er in die Proben, um die Zellkerne zu zerstören und die zu Chromosomen aufgerollte DNA freizusetzen. Bis zu 96 Proben schafft er in drei Stunden – verwechslungsfrei, Kontamination ausgeschlossen. Die Polymerase-Kettenreaktion (PCR, s. TR 4/2005), die gezielt die zu untersuchenden STR kopiert, geschieht in einem zweiten Robotersystem. Eine dritte Maschine macht dann die eigentliche Auswertung: Die STR-Fragmente werden unter 15 Kilovolt Spannung gesetzt und wandern durch 16 hauchfeine, mit Gel gefüllte Kapillare in Richtung der Anode am anderen Ende. Die sogenannte Kapillargelelektrophorese nutzt aus, dass sich kurze STR-Fragmente schneller durch die engen Poren des Gels bewegen als längere. Ein Laserstrahl erkennt sie, eine spezielle Software rechnet über die Dauer der Durchlaufzeit die Wiederholungszahlen des jeweiligen STR-Systems aus.
Bei dem aktuellen Reihentest untersuchen die Analytiker nur das den Mann charakterisierende Y-Chromosom. Sie betrachten acht Systeme, deren Ausprägung nach der Computerauswertung wieder klassisch von Beamtenhand in ein DIN-A4- Formular eingetragen wird. Acht Übereinstimmungen gelten als Treffer – statistisch gesehen liegt dann die Wahrscheinlichkeit, dass Tatort- und Personenprobe vom selben Menschen stammen, bei 99,99999999 Prozent. Doc glaubt an seine Wissenschaft: „Ein Report des European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI) belegt, dass über 70 Prozent aller Massentests zum Täter führen.“
Aber warum nehmen Verbrecher überhaupt an solchen Tests teil, wenn sie doch annehmen müssen, dadurch erwischt zu werden? Katrin Hebebrand-Streich, Polizeipsychologin am sächsischen LKA, nennt zwei mögliche Gründe dafür: Realitätsverlust oder sozialer Druck. Mancher Verbrecher kommt auf die irrige Idee, dass ihm der DNA-Test nichts anhaben kann.
Oder er ist sich der Gefahr bewusst, kann sich dem Test aber nicht entziehen, weil das in seinem Umfeld auffallen würde; möglicherweise macht ihn die Situation auch so nervös, dass er zwar den Test auslässt, dabei aber auffällt. „Hier ist die Aufmerksamkeit der Umwelt gefragt“, sagt Hebebrand-Streich.
Noch hat die DNA-Analyse dem klassischen Fingerabdruck nicht den Rang abgelaufen. Doch das könnte sich ändern: Zwar ist die Weitergabe von Reihentest-Ergebnissen an die DNAAnalysedatei des BKA verboten, doch seit November 2005 dürfen die Ermittler ohne Richtervorbehalt DNA-Profile von Tatortspuren und Freiwilligen dort eintragen. Und schon im vergangenen März umfasste die BKA-Datei 471 848 Datensätze und war damit die viertgrößte Europas. (nbo)