Das virtuelle Loch in der Gefängnismauer

Seit eineinhalb Jahren werkeln Häftlinge in dem größten Gefängnis Deutschlands an ihrem virtuellen Ausbruch. Jetzt darf eine Gruppe von 15 Gefangenen auch direkt über E-Mails mit der Welt jenseits der Mauern kommunizieren.

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Von
  • JĂĽrgen Kuri

Isolation, Monotonie und Einsamkeit: Eine abgeschlossene Welt für sich ist die Justizvollzugsanstalt Tegel im Norden Berlins. Doch seit eineinhalb Jahren werkeln Häftlinge in dem größten Gefängnis Deutschlands an ihrem virtuellen Ausbruch. Unter der Adresse www.planet-tegel.de verbergen sich die ersten Web-Seiten, die Häftlinge in Deutschland mitgestalteten. Jetzt darf eine Gruppe von 15 der 1.700 Gefangenen zu festgesetzten Zeiten auch direkt über E-Mails mit der Welt jenseits der Mauern kommunizieren.

"Sie betreten jetzt die Planet-Tegel Homepage. Bitte melden Sie sich an", beginnt der virtuelle Rundgang im Internet. Fotos zeigen sterile Gänge, vergitterte Fenster, schusssichere Türen. Die Texte erzählen von der Arbeit, Freizeit und dem Leben in der Gefängnisstadt. Seit ihrem Start im Dezember 1998 verzeichnen die Seiten mehr als 50.000 Zugriffe. "Wir wollten das Schweigen der Insassen, die Isolation durchbrechen", sagt der Berliner Theaterregisseur Roland Brus. Er ist zusammen mit dem Kölner Multimedia-Designer Michael Henning der geistige Vater des Projekts. Planet Tegel wurde mit Geldern aus Stipendien aus der Taufe gehoben. Jetzt lebt das Projekt größtenteils von Spenden, wie Computerfachmann und Mitarbeiter Jörg Heger sagt.

Zwölf Häftlingen bilden den festen Kern der Computergruppe. Einer davon ist Dittmar G., der wegen Betrugs und Unterschlagung noch bis zum Jahr 2003 eine elfjährige Haftstrafe verbüßt. Der 34-Jährige hatte bislang nichts mit Computern zu tun. Jetzt entkommt er mit der künstlerischen Arbeit an den Web-Seiten der Monotonie des Knastalltags. "Ich will geistig nicht veröden", sagt er. Ziel der Gruppe sei es, dem falschen Bild von Außenstehenden entgegenzuwirken, die meinen, die Gefangenen lebten mancherorts wie in einem Hotel.

Doch zunächst galt es, die skeptische Anstaltsleitung von dem Projekt zu überzeugen. Bis heute müssen die Häftlinge, die an der Computergruppe teilnehmen wollen, ein Genehmigungsverfahren durchlaufen. Die Internet-Seiten werden offline mit Hilfe von Computerdesignern erstellt und sind für die Häftlinge in Tegel nicht online abrufbar. E-Mails bekamen die Häftlinge bislang über einen Boten, der die Nachrichten auf einem externen Computer verwaltete. Aber jetzt kann die Gruppe zu festgesetzten Zeiten selber elektronische Post empfangen und senden. Das ist laut Heger bislang einmalig auf der Welt. Für Regisseur Brus ist der direkte E-Mail Verkehr ein gewaltiger Fortschritt: "Jetzt haben wir tatsächlich das Loch in der Mauer, für das wir angetreten sind."

Die Web-Seiten sollen bis Ende des Jahres auch in Englisch abrufbar sein. Auf einer neuen Plattform sollen Themen wie Drogen, Sexualität und Ausländer behandelt werden. Der nächste Schritt wäre eine direkte Internet-Verbindung in das Gefängnis. Doch dafür ist die Anstaltsleitung bislang nicht zu gewinnen: "Ich befürchte, dass sich die Häftlinge rechtsextremistische Literatur und Kinderpornos herunterladen könnten", sagt Leiter Klaus Lange-Lehngut. Aber auch er hat positive Seiten an dem Internet-Projekt erkannt und denkt darüber nach, Ausbildungen der IT-Branche im Gefängnis anzubieten. "Wir bemühen uns, dafür EU-Gelder zu bekommen", sagt er. Häftling Dittmar jedenfalls will so eine Ausbildung machen: "Wenn nicht hier, dann draußen nach meiner Entlassung." (Bettina Grachtrup, dpa)

Siehe dazu auch den Artikel Die Welt im Knast zum Start der Tegel-Website in Telepolis. (jk)