Essay: Die Kontrollspirale

Eigentlich soll der technische Fortschritt das Leben sicherer machen. Seltsamerweise fühlen sich gerade Eltern, als wäre es genau andersherum: Sie sind ängstlicher denn je.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
Inhaltsverzeichnis

Eigentlich soll der technische Fortschritt das Leben sicherer machen. Seltsamerweise fühlen sich gerade Eltern, als wäre es genau andersherum: Sie sind ängstlicher denn je.

Veronika Szentpétery ist Redakteurin von Technology Review. Sie ist gelernte Biologin und berichtet über Medizin und Medizintechnik, Biotechnologie sowie benachbarte Themenbiotope.

Der Name Mimo klingt süß. Nach einer Märchenfigur oder dem Kosenamen eines Kindes. Deshalb ist es wohl auch ein guter Name für einen Strampelanzug. Doch Mimo ist keine konventionelle Babykleidung: An der linken Bauchseite sitzt eine streichholzschachtelgroße grüne Plastikschildkröte, die mit Sensoren gespickt den Schlaf der Kleinen überwacht. Dafür zeichnet sie die Hauttemperatur und die Bewegungen auf; bestimmt, ob das Baby auf dem Bauch oder Rücken liegt, und schließt aus der Atmung, ob es schläft oder wach ist. All diese Daten schickt die Box per Bluetooth an eine Basisstation, die sie wiederum per WLAN in die Cloud und die App auf dem elterlichen Smartphone überträgt.

Früher gingen Eltern noch persönlich ans Kinderbettchen, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist. Dann begannen sie, Babyfons und Babykameras mit Lautsprechern zu benutzen, wenn sie sich am anderen Ende der Wohnung befanden und die Kinderzimmertür geschlossen war. Was blieb, war die Sorge, dem Nachwuchs könne etwas zustoßen. Nun gibt es Produkte wie Mimo. Die Technik ist buchstäblich hautnah an die Kinder herangerückt und soll Eltern das Gefühl geben, rund um die Uhr am Babybett zu sein.

Zwar steht ganz unten in der Rubrik "Antworten auf häufige Fragen" als Mahnung: Mimo wurde nicht dafür entwickelt, den plötzlichen Kindstod zu verhindern und ist kein Ersatz fürs persönliche Aufpassen. Doch das ist nur ein Feigenblatt. Denn die Technik soll trotzdem Zweifel suggerieren: Dem Baby könnte zu kalt oder zu warm sein. Warum ist es mitten in der Nacht wach, vielleicht hat es etwas? Hat es sich auf den Bauch gedreht, obwohl Experten dazu raten, dass es nur auf dem Rücken schlafen soll?

Auch Eltern, die sich schwer damit tun, ihre Kinder in ihr eigenes Zimmer zu entlassen, greifen begierig danach – wie Nicole Berglund aus Kalifornien: "Grace kann jetzt in ihrem eigenen Zimmer schlafen, ich kann sie visuell überwachen und während der ganzen Nacht Nachrichten erhalten, wenn etwas nicht in Ordnung sein sollte", berichtet sie auf der Mimo-Webseite.

Ein wichtiger Antrieb für den technischen Fortschritt war immer, die Dinge unter Kontrolle zu bekommen. Nun aber stellen wir mit Verwunderung fest: Je stärker wir uns darum bemühen, desto mehr Sicherheitslücken scheinen wir zu entdecken. Die Kontrollspirale dreht sich, und der technische Fortschritt treibt sie an.

Wann aus dem Wunsch, gute Eltern zu sein, eine übertriebene Sorge und Abhängigkeit von technischen Hilfsmitteln wurde, kann wohl niemand mehr sagen. Vermutlich existiert dieser eine Punkt auch nicht. Wir haben uns schrittweise hineinmanövriert. Am Anfang stehen meist legitime Sorgen um die Gesundheit der Kinder. Eltern und werdende Eltern wollen ihnen schwere körperliche und seelische Leiden ersparen – und letzteres auch sich selbst. Sie haben sich daran gewöhnt, solche Risiken mit technischer Hilfe auszuschließen – oder sie wenigstens auf ein Minimum zu reduzieren.

Dabei geschah jedoch etwas Seltsames: Die Risiken nahmen ab, die Sorge aber blieb. Eltern – und nicht nur sie – empfinden nicht mehr nur häufige und schwere Krankheiten als bedrohlich, sondern zunehmend auch ganz seltene. Das gilt auch für andere seltene Ereignisse. Die Sorge um die Unversehrtheit der Kinder bewirkt zum Beispiel, dass Eltern – in dem Bemühen, sie vor Mobbing und Sexualstraftaten zu bewahren – sie immer stärker überwachen und ihren Bewegungsradius einschränken.

Doch kehren wir zunächst zur Gesundheitssorge zurück. Kaum jemand würde bestreiten, dass Impfungen und Antibiotika Leben retten. Frühchen profitieren von einer immer ausgefeilteren Lebenserhaltungsmedizin. Auch Babys mit angeborenem Herzfehler müssen nicht mehr automatisch sterben. Und wer wollte Familien mit unerfülltem Kinderwunsch die künstliche Befruchtung verwehren sowie Familien, in denen sich schwere Erbkrankheiten häufen, das Recht auf Präimplantationsdiagnostik?

Es ist schwer, die Ängste werdender Eltern vor einem schwerbehinderten Kind von der Hand zu weisen. Es wäre sein Leben lang pflegebedürftig, würde womöglich unter starken Schmerzen leiden und vielleicht sogar nicht lange überleben. Aber das ist nicht der Punkt. All die Methoden, gesunden Nachwuchs zu bekommen, haben ihre Berechtigung, all die Erbguttests an der befruchteten Eizelle, die Nackenfaltenmessung und Fruchtwasseruntersuchung, die DNA-Tests im mütterlichen Blut. Aber gleichzeitig führen sie nicht dazu, dass wir uns weniger ängstlich fühlen. Sondern ganz im Gegenteil.