Essay: Die Kontrollspirale

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So lassen sich auch Paare ohne bekannte familiäre Vorbelastung genetisch testen, um gesunde Kinder zu bekommen. Sie wollen schon vor der Zeugung erfahren, ob sie Träger monogenetischer Krankheiten sind, also solchen, die durch ein einziges fehlerhaftes Gen ausgelöst werden. Dass diese extrem selten vorkommen, beruhigt sie nicht mehr. Darüber hinaus können Frauen mit dem Gentest des US-Start-ups GenePeeks Samenspender ausschließen, deren DNA mit der eigenen kombiniert sehr wahrscheinlich Kinder mit seltenen Stoffwechselkrankheiten hervorbringen würde.

Der Wunsch, selbst niedrige Risiken auszuschließen und die Unversehrtheit der Kinder mit technischen Mitteln zu gewährleisten, hört auch nach ihrer Geburt nicht auf. Eine ganze Armada neuer Babyschutz-Gadgets spricht dafür, dass die Technik nicht nur ein vorhandenes Sicherheits- und Kontrollbedürfnis bedient, sondern es weckt und verstärkt. Am plötzlichen Kindstod beispielsweise starben 2013 laut der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung nur 152 Babys. In den USA waren es 2013 knapp 40 Fälle pro 100.000 Geburten. Zwar ist die genaue Ursache noch immer unklar, aber einige technikfreie Schutzmaßnahmen scheinen einen Einfluss darauf zu haben, dass es seltener vorkommt: zum Beispiel Baby-Schlafsack statt Decke, Rückenlage und eine bestimmte Temperatur im rauchfreien Schlafzimmer. Trotzdem kaufen Eltern den Mimo-Strampler und ähnliche Produkte.

Der britische Hersteller BleepBleeps bietet sogar einen ganzen Zoo an Kinderschutz-Gadgets an. Der Bewegungssensor "Sammy Screamer" etwa soll per App vordergründig nur melden, wenn der abgestellte Rucksack oder die Handtasche von Dieben bewegt wurde. Aber er lässt sich laut Werbung eben auch am Kinderwagen befestigen. Die Handyuhr "Filip" von Evado zeigt jederzeit den Aufenthaltsort des Kindes an und besitzt darüber hinaus sowohl einen Notrufknopf zum Smartphone von Eltern und anderen Verwandten als auch ein Mikrofon, das im Notfall automatisch alle Umgebungsgeräusche mitsendet.

Zugegeben, die Einschätzung von Risiken ist nicht immer leicht. Beim plötzlichen Kindstod mag man denken, egal ob selten oder nicht, wenn man es verhindern kann, wo ist dann der Schaden? Doch die zunehmende Fixierung darauf, Kinder um jeden Preis zu schützen, führt in die falsche Richtung. Danah Boyd spricht in diesem Zusammenhang von einer regelrechten Kultur der Angst. Die Medien-, Kultur- und Kommunikationswissenschaftlerin von Microsoft Research hat für ihr Buch "Es ist kompliziert" 166 Teenager befragt: über ihre Nutzungsgewohnheiten im Internet, was sie dort überhaupt nutzen dürfen und womit sie darüber hinaus ihre Freizeit verbringen. Parallel dazu bat sie die Eltern zu erzählen, warum sie die Aktivitäten ihrer Sprösslinge mit Sorge sehen.

Besonders große Angst haben Eltern davor, dass ihr Kind im Internet bis zum Selbstmord gemobbt oder unwissentlich von Sexualstraftätern umgarnt werden könnte. Während es viel Sinn macht, sie über solche Gefahren aufzuklären, versuchen viele Eltern allerdings inzwischen, ihre Sprösslinge komplett von sozialen Netzwerken wie Facebook und Spielen im Freien fernzuhalten. Weil etwa die Mobbingfälle durch die Berichterstattung sehr präsent sind, entsteht der Eindruck, sie passierten auch häufiger.

Das ist laut Boyd allerdings nicht der Fall. Auch bei sexuellem Missbrauch wird die Rolle des Internets überschätzt. Die Täter stammen meist aus der unmittelbaren Umgebung der betroffenen Familie, häufig aus der Nachbarschaft oder der eigenen Verwandtschaft. "Die Kinder in den USA sind heute sicherer als jemals zuvor, ob es nun um Sexualstraftaten oder (Internet-) Schikane geht. Aber wir treiben Eltern trotzdem in einen Glauben hinein, dass alles da draußen furchtbar sei", sagt Boyd.

Die Konsequenz: "Ich war schockiert, wie stark die Mobilität von Teenagern eingeschränkt ist", sagte Boyd. "Ich wusste zwar, dass sich das seit meiner Jugend zugespitzt hat, habe aber das Ausmaß unterschätzt. Die Freiheit, einfach rauszugehen (...), fehlt völlig." Sehr gut illustriert das eine Familienbefragung des britischen Gesundheitsexperten William Bird: Urgroßvater George durfte 1919 im Alter von acht Jahren noch sechs Meilen bis zu seinem Lieblings-Angelplatz laufen, weil die Eltern ihm nicht mal ein Fahrrad kaufen konnten.

Sein Sohn Jack durfte 1950 im selben Alter immerhin noch eine Meile unbeaufsichtigt in den Wald hineingehen. Enkelin Vicky hat 1979 mit acht Jahren einen Bewegungsradius von etwa 800 Metern; sie darf per Fahrrad in der Nachbarschaft herumfahren, zur Schule laufen und allein im Swimmingpool baden. Ihrem Sohn Ed erlaubte sie 2007 ohne Aufsicht allerdings nur noch, etwa 300 Meter bis ans Ende der Straße zu gehen. Den kurzen Weg zur Schule und zu vermeintlich sicheren Gegenden zum Fahrradfahren wird er mit dem Auto gefahren.

Wie weit soll das noch so gehen, wie weit soll sich die Kontrollspirale weiterdrehen? Denn bei jeder neuen Technik wird immer ein Restzweifel bleiben – für den sicher bald der nächste Anbieter eine Lösung versprechen wird. Es sei denn, wir machen uns wieder bewusst, was wir unserem überdimensionierten Risiko- und Sicherheitsbedürfnis opfern: die Unbeschwertheit der Kindheit. Und damit einhergehend auch die Freiheit der Eltern. Vielleicht ist es an der Zeit, uns wieder daran zu erinnern, warum wir Technologie eigentlich entwickeln: um Dinge zu ermöglichen, nicht um Grenzen zu setzen. (vsz)